1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. November 2024, Teil 4

Christel Schmidt

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Dieser Film ist eine dramaturgische Revolution. Eine rhythmische Offenbarung. Eine aufregende Überraschung. Ein Emanzipationsdrama. Ein Thriller. Ein Musical. Ein Wunder, und eine Freude! Und nein, in diesem Fall geht‘s wirklich nicht kleiner. Denn ‚Emilia Perez‘ ist einfach groß. Und diese Kritik müsste eigentlich gesungen und getanzt werden. Mit Musik und Bewegung brauche man nur 4 Sekunden, um komplexe Gefühle auszudrücken. Sagt Regisseur Jaques Audiard.

Deshalb hat er sich entschieden, diese komplexe Geschichte als Musical zu erzählen. Der Franzose dreht seinen Film mit spanisch-mexikanischen Schauspielerinnen. Es gibt keine gemeinsame Sprache. Audiard hat sich ganz auf Musik, Rhythmus und Tanz verlassen. Und auf die Kraft dieser Geschichte, und die überwältigende Wirkung der Schauspielerinnen. Und so überwindet ‚Emilia Perez‘ nicht nur Sprachgrenzen, sondern vor allem Genregrenzen. Ein Musical ohne jeden Hollywoodtouch, in dem Rhythmen, Farben (wir sind in Mexiko!) und Klänge zu einer mitreißenden Welle verschmelzen. EinThriller im Drogenmilieu, aber nicht mit den üblichen Zutaten. Hier sind Frauen die starken, die führenden Figuren. Mit einem Plot, der so noch nicht erzählt wurde. Und das, obwohl mittlerweile ja in jeder deutschen Vorabendserie mindestens eine queere oder trans Person vorkommt. Ja, Emilia Perez ist eine trans Frau. Sie war ihr Leben lang im falschen Körper. Sie war der mächtige, gefürchtete Kartellboss Manitas. Und der hat seit Jahren einen Plan ausgearbeitet, um die Frau zu werden, die er im Inneren immer schon war.

Um diesen Plan endlich umsetzen zu können, dafür lässt er Rita (Zoe Saldana) kidnappen. Eine hochqualifizierte Anwältin, die mit ihrer scharfen Intelligenz im Dienste einer zweifelhaften Kanzlei erfolgreich Drogendealer, Mörder und Bosse aus Strafverfahren raushaut. Wir sehen sie gleich zu Beginn des Films, wie sie nachts am Schreibtisch an einer Verteidigungsstratege arbeitet. Business as usual. Szenen, die wir aus vielen Filmen kennen. Aber dann wandeln sich die Worte ihrer Argumentation in einen kraftvollen Song, ihre Anspannung fließt in einen Rhythmus, der im nächtlichen Strassenleben zu einem energiegeladenen Tanz wird. Das ist total mitreißend und gleichzeitig völlig selbstverständlich und organisch. Deshalb kommt auch erst garnicht dieses Gefühl auf, das sich bei Musicals ja doch oft einstellt: Äh, warum singen und tanzen die denn plötzlich? Bei Jaques Audiard werden nicht einfach Songs performed, sondern Gefühle ausgedrückt, und die Geschichte damit vorangetrieben. Rita also wird Manitas helfen, sein Leben als Kartellboss zu beenden, und als Frau, als Emilia Perez, neu zu beginnen. Sie besorgt den führenden Spezialisten - eine Kapazität aus Israel, der die Operation und den gesamten Prozess unter absoluter Verschwiegenheit leiten wird. Und sie kümmert sich darum, dass Manitas‘ Frau Jessi (Selena Gomez) und seine beiden Kinder in der Schweiz ein luxuriöses Leben führen können.

Auftrag erledigt. Rita ist jetzt unabhängig und wohlhabend. Aber dann begegnet sie Emilia Perez. Eine beeindruckende, attraktive Frau, in der sie Manitas kaum wieder erkennen kann. Und Rita bekommt nun eine neuen Auftrag. Sie wird Emilia dabei helfen, sich für Opfer von Gewaltverbrechen einzusetzen, und deren Familien finanziell zu unterstützen. Mit dem schmutzigen Geld der früheren Drogengeschäfte wird jetzt Gutes getan. Als Frau will der ehemalige Kartellboss die Welt etwas besser machen.

Und - vielleicht die schwierigste Aufgabe - Rita soll Emilias‘ eigene Familie aus der Schweiz unter einem Vorwand zurück nach Mexiko holen. Emilia hat Sehnsucht nach ihrer Familie und wird ihrer Frau Jessi und den geliebten Söhnen als entfernte Cousine des tot geglaubten Manitas begegnen. Und jetzt muss einfach über die Schauspielerinnen geredet, nein, von ihnen geschwärmt werden. Sie sind schlicht ein Sensation. In Cannes, wo der Film den Spezialpreis der Jury gewann, wurde das Schauspielerinnen Ensemble ausgezeichnet. Die mexikanische trans Frau Karla Sofia Gascon in der Titelrolle gewann dafür den Europäischen Filmpreis und wird für eine Oscar Nominierung gehandelt. Sie hat, so erzählte sie in Cannes, ihre Seele in diese Rolle, in diesen Film gelegt. Und Audiard ist eben ein Ausnahme Regisseur, der daraus ein Meisterwerk machen kann. Wieder ein Meisterwerk, kann man sagen. Schon in ‚Der Geschmack von Rost und Knochen‘ hat Marion Cotillard unter seiner Regie schonungslos eine Frau gespielt, die körperlich und seelisch schwerst versehrt ist, sich aber dem Leben wieder zuwenden kann. Bei Audiard geht es eben immer um viel: Leben und Tod, Identität und Befreiung, Risiko und Selbstbestimmung. ‚Emilia Perez’ ist voller überraschender Wendungen und zu keinem Zeitpunkt vorhersehbar. Audiard schafft es auch hier, die Spannung bis zum Schluß zu steigern. Dann wird das Musical wieder mehr zum Thriller.

Aber das soll garnicht vorweggenommen werden. Gehen Sie einfach ins Kino. Schauen Sie diesen Film. Lassen Sie sich mitreißen. Überwältigen. Staunen Sie. Genießen Sie - etwas ganz und gar Einzigartiges.

Foto:
©Verleih

Info:
Stab
Regie und Drehbuch.   Jacques Audiard 
Originalmusik und Songs.    Clément Ducol,  Camille 
Choreographie.    Damien Jalet
Kamera      Paul Guilhaume, AFC

Darsteller
Rita.  Zoe Saldaña
Emilia.    Karla Sofía Gascón
Jessi.      Selena Gomez
Epifania.     Adriana Paz
Gustavo Brun      Édgar Ramirez

Frankreich 2024, ca. 130 Minuten