vena mitSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. November 2024, Teil 13

Chiara Fleischhacker

Berlin (Weltexpresso) - Bindung. Wahrscheinlich bestimmt nichts unser Leben so sehr, wie die Nähe und das Vertrauen, das wir in den ersten Lebensmonaten zu unserer Bezugsperson aufbauen. Es ist paradox. Die Erinnerungen an die ersten drei Lebensjahre werden gelöscht und sind gleichzeitig unterbewusst die Triebfeder für die Höhen und Tiefen unseres Daseins. Sie sind der Grund für unsere Fähigkeit zu lieben, Nähe zuzulassen, aber auch für persönliche Krisen, Einsamkeit, autoaggressives Handeln und Suchtverhalten.

Mittlerweile geht man davon aus, dass uns schon die ersten Minuten nach der Geburt nachhaltig prägen. Müttern werden ihre Babys nicht mehr weggenommen, um sie aufwendig zu untersuchen. Sie können sich auf der Brust ihrer Mutter wärmen und an die neuen Eindrücke gewöhnen, die ersten Erfahrungen mit der lauten, hellen und unbequemen Welt draußen sammeln. Zumindest im Idealfall. VENA erzählt die Geschichte einer Mutter, die wortwörtlich von ihrem Baby entbunden wird. Wenn Haft und Schwangerschaft zusammen treffen, ist es eine Glücksfrage, ob eines der fünf deutschen Mutter-Kind-Heime einen Platz frei hat. Da Schwangerschaft kein Grund für einen Haftaufschub ist, treffen diese Umstände nicht selten zusammen.

Dr. Karlheinz Keppler hat lange Zeit in der JVA Vechta als Gynäkologe eben solche Frauen betreut. Sein Fazit lautet, dass alle Schwangerschaften bei Inhaftierten Risikoschwangerschaften darstellen. Der Stress der Extremsituation Inhaftierung überträgt sich zwangsläufig auf das Kind. Er hat auch beobachtet, dass Mütter in Haft oft wegen Drogendelikten, Schwarzfahrens oder Beschaffungskriminalität einsitzen. Außer ihrer Geschichte lassen sich keine Schlüsse ziehen, ob sie liebevolle Mütter werden oder nicht. Obwohl schwangere Inhaftierte nach Einschätzung des Jugendamtes erziehungsfähig sind, werden viele von ihnen einfach aus Platzgründen von ihren Babys getrennt.

Die Strafrechtsreformerin Helga Einsele hat sich in ihrer gesamten Wirkungszeit trotz vieler Widerstände dafür eingesetzt, dass dies nicht passieren muss. Dank ihr wurde 1988 in Frankfurt das erste Mutter-Kind-Heim in Haft gegründet. Es geschah aus der Überzeugung, dass die Trennung zu weitreichenden emotionalen Schäden bei Mutter und Kind führt. Die Gegenstimmen, die auch heute noch in der Mehrzahl der Bundesländer den Bau von jenen Einrichtungen blockieren, sind der Überzeugung, dass ein Baby nicht in Haft aufwachsen sollte. Die Meinungen gehen auseinander. 
Feststeht, dass es Frauen gibt, die eben diese Geschichte durchleben.

Ich möchte mit Jenny eine Figur auf die Leinwand bringen, die mit sich und für ihr Baby kämpft. Selbst gebrandmarkt vom Liebesentzug in jungen Jahren will sie es nun besser machen. Bis sie in die Sackgasse Strafvollzug kommt. Ich hoffe, mit dem Film ein breites Publikum ansprechen zu können, das sich nach einem Film sehnt, der eine Geschichte fernab von Kriminalitäts- und Geburtsklischees erzählt. Es gibt wohl kein universelleres Thema als Geburt. Es betrifft uns alle. Zudem kann jede Mutter Jennys Überforderung und zugleich Liebe verstehen. Darüber hinaus bin ich mir sicher, dass sich viele Menschen dafür interessieren werden, wie Schwangerschaft in Haft abläuft.



Mit Marla als Hebamme an Jennys Seite möchte ich eine Figur in den Film bringen, die Jenny zeigt, dass sie stark ist. Sie kitzelt aus Jenny das Vertrauen zu sich selbst und ihrem Körper heraus und überzeugt sie davon, eine gute Mutter sein zu können. Sie schafft Hoffnung, die Jenny durch die vielen Talfahrten verloren hat. Die beiden Frauen erleben frohe Momente, in denen sie einfach nur das Wunder der Natur bestaunen. Auch für Marla ist die Begegnung mit Jenny ein Prozess des Loslassens und Vertrauenfindens. Denn auch sie steht als Mutter vor Herausforderungen, für die sie trotz oder gerade wegen ihres Berufes als Hebamme nicht immer die richtige Lösung findet.

Dabei ist mir wichtig, in VENA kein romantisiertes Bild von Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft zu zeigen. Die Bilder schaffen einen Realismus, der die raue Schönheit, aber auch die Herausforderungen zeigt, die diese Lebensabschnitte mit sich bringen. Die Ehrlichkeit der Bilder ermöglicht eine Identifikation mit den beiden Hauptfiguren, die offen ihre Ängste und Zweifel aussprechen, scheitern und wieder aufstehen. Ihr Antrieb ist der menschliche Wunsch nach Verbundenheit.“

Für die authentische Darstellung einer Schwangerschaft in Haft besuchte ich mehrere Frauen-Justizvollzugsanstalten (JVA). Die wichtigste Recherchepartnerin war hierfür Hilly Škorić, die selbst ihren Sohn während ihrer Haftzeit entbunden hat. Sie half so, die Szenen in der Haft möglichst authentisch darzustellen, unter anderem durch die Fußschelle im Krankenhaus, das lange Fesseln bis zur Entbindung und das Abschneiden der Fingernägel. Die Zusammenarbeit mit Hilly war besonders und noch heute bin ich mit ihr im Kontakt. Hilly hat nach ihrer Haftzeit den Verein „Hilf-Reich e.V.“ gegründet, der gefährdete Jugendliche und ihre Angehörigen unterstützt, Beratungen zum Thema Sucht- und Mobbingpräventation anbietet und so Perspektiven aufzeigt.

Aktuell ist Hilly Škorić als Teil der „Die GOLDENE BILD der FRAU“-Kampagne bundesweit auf Plakaten zu sehen. Viele der Hebammen, mit denen im Zuge der Recherche gesprochen wurde, berichteten vom Dilemma von Nähe und Distanz, vom Helfersyndrom in sozialen Berufen, der Thematik Sucht in der Schwangerschaft und dem großen Risiko, einen Burnout in ihrem Beruf zu erleben. Ich führte eine Vielzahl an Gesprächen, die mir diverse Perspektiven und Realitäten aufzeigten. So ist es mir gelungen, ein möglichst realistisches Bild des Milieus zu schaffen und die Figur „Jenny“ in VENA für das Publikum nahbarer zu machen.“


P.S.
DIE VENA UMBIILICALIS umbilical = die Nabelschnur betreffend, Nabel-, umbilikal. [2] in einer sehr engen Beziehung. [3] in einer notwendigen Verbindung.Über die vena umbilicalis, auch Nabelschnurvene, wird der Fötus mit sauerstoffreichem Blut und Nährstoffen versorgt und so eine direkte Verbindung zwischen Mutter und Kind hergestellt – die engste Verbindung ihres Lebens. Das Kind ist abhängig von seiner Mutter. Ihr Blut kann es sowohl nähren als ihm auch schaden. Die vena umbilicalis ist ein Sinnbild für das menschliche Bedürfnis nach Bindung, das in gute und schlechte Abhängigkeiten manövrieren kann.


Foto:
©Verleih

Info:
STAB
REGIE & DREHBUCH Chiara Fleischhacker
KAMERA Lisa Jilg

BESETZUNG
JENNY.     Emma Nova 
BOLLE      Paul Wollin
MARLA     Friederike Becht
RENATE    Barbara Philipp
CLARA     Edith Stehfest

Abdruck aus dem Presseheft