radio 3Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2024, Teil 1

Nora Fingscheidt

Berlin (Weltexpresso) – Als ich Amy Liptrots Buch „The Outrun“ zum ersten Mal las, war es die emotionale Tiefe von Amys innerem Kampf, die mich wirklich bewegte. Ihr autobiografisches Buch in ein Drehbuch zu verwandeln war ein einzigartiger Prozess. Denn die Geschichte hat keinen spannenden Plot oder unerwartete Wendungen, sondern sie ist sehr sanft und doch brutal ehrlich. Sie gleitet – wie Zeit und Raum, wie Robben im Wasser, wie Amy’s Gedanken. Die Natur ist eine Figur für sich.

Zunächst benannten Amy, Saoirse und ich die Hauptfigur Rona (nach einer kleinen unbewohnten Insel hinter dem Horizont, die von der Liptrot-Farm aus zu sehen ist), um uns eine gesunde Distanz und kreative Freiheit zu verschaffen. Anschließend arbeiteten wir eng zusammen, um das Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Fiktion zu wahren. Einen Film über eine lebende Person und ihre Familie zu drehen, bedeutet eine große Verantwortung und erfordert Vertrauen von allen Seiten. Es war ein so schöner und sinnvoller Prozess, dieses Vertrauen vom ersten Gespräch bis zum letzten Tag bei der Tonmischung wachsen und gedeihen zu lassen.

Wir wollten einen poetischen Film schaffen, bei dem die Bilder und die Atmosphäre noch lange nach dem Anschauen in Erinnerung bleiben würden. Ein Film, der einen auf eine Reise mitnimmt, nicht nur nach Orkney oder London, sondern auf eine spirituelle Reise in die innere Welt einer jungen Frau, die unter extremen Umständen aufgewachsen ist und ihren Platz im Leben ohne Alkohol sucht. Es ist eine wahre Geschichte darüber, wie leicht man sein Leben in Stücke reißen kann, aber auch darüber, dass Heilung möglich ist. Es ist nicht nur ein Film über Sucht, sondern auch über den schwierigen Prozess der Genesung, der eine ganz eigene Reise ist, Tag für Tag.

Der Film wird in drei Ebenen erzählt, die frei miteinander verwoben sind: Die Orkney-Ebene ist Ronas Hier und Jetzt. Sie ist mit ihren getrennten Eltern auf der schottischen Insel Orkney Mainland gestrandet. Sie ist nüchtern, aber einsam und hat keine Pläne für ihre Zukunft. Wir drehten hauptsächlich an den Originalschauplätzen, die in Amys Leben eine Rolle spielten, und haben so viele Einheimische wie möglich einbezogen, um einen fast dokumentarischen Eindruck zu vermitteln. Als alles hoffnungslos erscheint, sucht Rona die totale Isolation in einem winzigen Vogelwärterhaus namens Rose Cottage auf der abgelegenen Insel Papa Westray (Papay). Nur dort kann sie sich endlich mit den Geistern ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Es war ein ganz besonderer Drehort, denn dort verbrachte Amy zwei Winter allein, um ihr Buch „The Outrun“ zu schreiben.

Die zweite Ebene ist die London-Ebene, die farbenfrohe und traumartige Erinnerungen an ihre besten Zeiten zeigt, als sie sich in Daynin verliebte und völlig frei war. Aber sie enthält auch immer mehr verzerrte und verstörende Erinnerungen an Exzesse und Gewalt und schließlich die Strenge, mit der sich Rona in eine institutionelle Rehabilitationsgruppe begibt. Anfangs stehen die Bilder aus London in einem warmen und leuchtenden Kontrast zu der Kälte und dem Blau von den Orkneys. Doch je mehr sie sich mit den Geschehnissen in London auseinandersetzt und mit dem, was sie in die Entzugsklinik geführt hat, desto hässlicher und chaotischer werden ihre Erinnerungen.

Die dritte Schicht ist die geistige Ebene. Sie ist der intimste Einblick in Ronas Kopf und ihre Wahrnehmung der Welt. Wir hören und sehen ihre Gedanken und Beobachtungen. Wissenschaftliche Forschung mischt sich mit extremen Kindheitserinnerungen. Form und Stil sind frei und experimentell, von Dokumentar- und Archivaufnahmen bis hin zu Animationen, um die Fülle an Kreativität, Neugier und Wissen in Ronas Kopf zum Ausdruck zu bringen.

In der ersten Hälfte des Films werden die drei Ebenen auf sehr lebendige Weise miteinander verbunden, indem sie durch die Zeit springen, denn Rona ist buchstäblich überall unterwegs. Durch diesen chaotischen Eindruck brechen ihre Erinnerungen durch und nehmen überhand. Sie kann sich nicht konzentrieren, sie ist hin- und hergerissen zwischen ihrer bewegten Vergangenheit und ihrer Unverbundenheit in der Gegenwart.

In der zweiten Hälfte des Films, als Rona die Isolation auf Papay sucht, beruhigt sie sich und mit ihr verlangsamt sich auch die Filmerzählung. Sie findet zu Konzentration und Ruhe, und das Publikum auch. Rona ist in der Lage, sich ihrer Sucht zu stellen und sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Sie lässt los und beginnt, sich dem Zauber und der beeindruckenden Schönheit um sie herum zu öffnen. Und an unerwarteten Orten ist sie endlich in der Lage, soziale Kontakte zu knüpfen und wieder Teil einer Gemeinschaft zu werden.

Bei den Dreharbeiten haben wir alle Dialoge locker gehalten und nach einem Drehbuch improvisiert, das in indirekter Rede verfasst war und den Schauspielern keine festen Sätze, sondern Aufforderungen und Anweisungen an die Hand gab. Wir haben zu allen Jahreszeiten gedreht und unseren Drehplan an die Anforderungen der Natur angepasst: Wir drehten, wenn die Lämmer geboren wurden, wenn die Vögel nisteten und wenn die Robben schwammen.

Die Bilder von Roy Imer zeigen die epischen Ausmaße der Landschaft und schaffen gleichzeitig ein intimes Porträt einer radikalen Persönlichkeit. Einer Figur am Rande der Gesellschaft. Der Schnitt von Stephan Bechinger ist mal ruhig und reduziert, mal schnell und überwältigend, wie die Extreme in Rona. Saoirse Ronan nimmt uns mit auf diese persönliche Reise zwischen Hoffnung und Verzweiflung und beherrscht die Leinwand mühelos mit ihrer unglaublichen Tiefe und Präsenz. Wir weinen und lachen mit ihr. Sie ist manchmal verletzlich und manchmal gemein. Wir gehen mit ihr durch alle möglichen menschlichen Emotionen und egal, was sie tut, wir drücken ihr die Daumen, dass sie wieder gesund wird. Die Filmmusik von John Gürtler und Jan Miserre ist von den Klängen der Natur, dem Wind und den Wellen inspiriert und wird von der lebhaften elektronischen Musik Londons kontrastiert.

Ganz am Ende, wenn sich alles zusammenfügt und Rona ihre Geschichte selbst in die Hand nimmt, gibt sie sich der Energie ihres natürlichen Wahnsinns hin. In brodelnder Nüchternheit, zwischen massiven Felsen und heftigen Wellen, bricht sie die Gesetze der Zeit und der Physik und wird eins mit der Welt um sie herum. Die Extreme in ihr machen sie zu dem, was sie ist. Es sind diese zwei Zeilen aus Amys Buch, an die wir uns am Set jeden Tag erinnerten: „Der Rand ist das, wo ich herkomme. Der Rand ist mein Zuhause.“

Foto:
Nora Fingscheit
©Radio 3

Info:
The Outrun (Deutschland, Großbritannien 2024) 
Genre: Drama, Alkohol, Landschaft, Orkney-Inseln, Romanverfilmung
Filmlänge: ca. 119 Min.
Regie: Nora Fingscheidt
Drehbuch: Amy Liptrot, Nora Fingscheidt
nach Amy Liptrot: The Outrun (2016); deutsch: Nachtlichter (2019)
Darsteller: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabi, Izuka Hoyle, Lauren Lyle u.a.
FSK: ab 12 Jahren