outrun1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 5. Dezember 2024, Teil 2

Redaktion

London (Weltexpresso) – Amy, als Sie „The Outrun“ schrieben, hatten Sie da jemals die Vorstellung, dass es ein Film werden könnte?

AL: Auf keinen Fall. Als ich das Buch hier auf der Isle of Papay schrieb, war mein Ziel, es fertigzustellen. Ich war von der Qualität der Geschichte überzeugt und wollte sie veröffentlichen, aber die Veröffentlichung des Buches war die Grenze meines Ehrgeizes zu diesem Zeitpunkt.


Wie kam es dazu, dass die Adaption als Projekt zustande kam?

AL: Als das Buch 2016 veröffentlicht wurde, traten verschiedene Filmemacherinnen und Filmemacher an mich heran, die an einer Adaption interessiert waren, aber es war die Produzentin Sarah Brocklehurst und der Brief, den sie mir schrieb, und ihre Ideen, wie eine Buchverfilmung aussehen könnte, die mich dazu brachten, mit ihr zusammenzuarbeiten. Dann war es ein jahrelanger Prozess, um das richtige Team zusammenzubringen, was dann erst Ende 2020 Formen annahm, als die Regisseurin Nora Fingscheidt an Bord kam.


Nora, was hat Sie an dem Projekt gereizt? Warum wollten Sie es als Ihren nächsten Film nach „The Unforgivable“ in Angriff nehmen?

NF: Das Projekt kam nach der Pandemie zu mir. Sarah Brocklehurst schickte mir das Buch, und ich wusste, dass Saoirse Ronan die Hauptrolle in dem Film spielen würde, was es für mich natürlich sehr interessant machte. Also hatte ich sie im Kopf, als ich das Buch las. Das Buch war so kraftvoll und einzigartig in seiner Ehrlichkeit, es strahlte Wärme und Liebe für das Land aus, und es trug mich an diesen Ort am Ende der Welt. Zu wissen, dass Saoirse diejenige sein würde, die Rona spielt, war der große Jackpot. Denn die Verfilmung beruht auf einer Person, die das alles schauspielerisch zu tragen vermag.  


Auch mit „Systemsprenger“ entstand ein Film über ein unbändiges Mädchen, das von der Gesellschaft nicht „gezähmt“ werden kann – was interessiert Sie an dieser Art von Figuren?

NF: Ich fühle mich zu Figuren hingezogen, die ihre eigenen Kämpfe in sich tragen. Diese Figuren passen vielleicht nicht in die Gesellschaft, aber gleichzeitig gibt es keinen klaren Antagonismus von außen. Es ist ein Kampf mit ihren inneren Dämonen.


Wie sah die Drehbuchentwicklung aus? Es liest sich als ein recht schwierig zu adaptierendes Buch, weil es in sich geschlossen ist und verschiedene Zeitebenen enthält. Wie haben Sie es geschafft, dass es für eine 120-minütige Erzählung geeignet ist?

AL: Zunächst dachte sich Nora anhand der Buchvorlage ein erstes Skript aus, wie sie die Adaption angehen wollte. Ich erinnere mich, wie ich diesen ersten Entwurf las, mit der Idee, wie man die eher sachlichen Informationen des Buches angehen könnte – und ich begann, mit den Fingern zu klicken. Ich dachte: ‚Ja, sie hat es verstanden’. Das war das zusätzliche Element, das den Film zu einem Abbild des Buches machen würde. Ich war wirklich begeistert davon. Dann fingen Nora und ich an zusammenzuarbeiten, was mit vielen langen Gesprächen begann.

NF: Das zusätzliche Element oder die zusätzliche Ebene war die geistige, die „Nerd“-Ebene, denn ich fand Amys Gedankengänge über die Welt so bewegend und so besonders. Und wenn wir diesen Film machen würden, wollte ich ihn in Teilen zu einem wirklich nerdigen Film machen. Als ich zu dem Projekt kam, habe ich mich mit dem Buch zurückgezogen und fünf oder sechs verschiedenfarbige Textmarker genommen und alles farblich den verschiedenen Ebenen zugeordnet: Kindheit, Folklore, London, Orkneys, Faktenwissen, usw. Und dann hatte ich kleine Kärtchen, die den Farben entsprachen, und verbrachte ein paar Tage damit, alles zu ordnen. Auf dieser Grundlage entstand dann das erste Skript.


Nora, Sie sprachen davon, dass das Buch sowohl sanft als auch brutal ehrlich ist – wie haben Sie diese beiden Elemente im Filmkontext vereint und aus einer Geschichte, die nicht mit einer spannenden Handlung oder unerwarteten Wendungen aufwartet, ein Drama gemacht?

NF: Mein erstes Skript war sehr sanft, wir hatten das Gefühl, dass wir es prägnanter und dramatischer machen mussten. Die Szenen zwischen Rona und Daynin (Paapa Essiedu) wurden etwas härter und konfliktreicher. Wir fügten auch einen Rückfall hinzu, der nicht im Buch stand. All diese Entscheidungen trafen wir gemeinsam, denn es war mir sehr wichtig, dass Amy mit allem einverstanden ist, vor allem mit den Änderungen gegenüber der Realität.

Gab es Teile des Buches, die Sie opfern mussten? Und war es schwierig, dies zu tun?

NF: Vieles! Der Film fängt eine Essenz und einen Bruchteil des Buches ein. Es ist ein ganz anderes Medium, ein Film ist eher eine Kurzgeschichte als ein Roman, also mussten viele Dinge weg, aber das ist in Ordnung.

AL: Nora hat sehr gute Arbeit geleistet und viele Elemente des Buches in den Film gebracht. Der Schwerpunkt liegt auf der persönlichen Geschichte und der Geschichte der Familie, aber es gibt auch Platz für die anderen Elemente.


Und Saoirse, wann haben Sie sich für die Rolle der Rona entschieden und warum wollten Sie diese Rolle spielen?

SR: Ich kam 2020 zu diesem Projekt, auf dem Höhepunkt der Pandemie. Ich glaube, es war eine Zeit, in der jeder, auch wenn er kein begeisterter Leser war, zu einem wurde. Mein Partner Jack Lowden und ich lasen also ein Buch pro Woche, und Jack kannte dieses Buch schon. Ein Bekannter von ihm sprach immer davon und meinte, es sei sein Lieblingsbuch. Ich weiß nicht, was ihn plötzlich auf die Idee brachte, dass ich es lesen und diese Rolle spielen sollte, aber es hat mich fasziniert. Ich habe es in ein paar Tagen gelesen, was für mich sehr schnell ist. Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, wer die Rechte daran hatte. Wir waren noch ganz neu im Filmproduktionsgeschäft, aber wir wussten, dass wir den Film machen wollten. Es war eine einstimmige Entscheidung zwischen mir, Jack und Dominic Norris, mit dem wir den Film produzierten. Wir fanden heraus, dass Sarah die Rechte hatte. Danach hat sich alles von selbst ergeben.

Es ist ein unglaublich filmisches Buch, weil es so emotional und episch ist. Jedoch war es schwierig, beim Adaptionsprozess den Anfang zu finden, Nora fand ihn. Es war neu für mich, schon so früh involviert zu sein und mit Nora gestalten zu können. Sie war so offen für Amys Originalmaterial und ihr persönliches Leben, aber auch für meine Persönlichkeit und das, was sie aus mir herausholen wollte, um es in die Rolle von Rona zu stecken.

Dies ist auch Ihre erste Arbeit als Produzentin – was bedeutete es für Sie, diese Rolle zu übernehmen?

SR: In den letzten zehn Jahren hatte ich als Schauspielerin oft das Glück an Projekten mitzuwirken, die sich noch in einem frühen Stadium befanden. Ich habe diese frühe Entwicklungsphase und Erfahrung immer sehr genossen. Das Gefühl, mehr kreativen Input geben zu können, ist für mich wichtig. Ich glaube, viele von uns sehnen sich nach dieser zusätzlichen Ebene, die man beim Produzieren erlangt, auf der man das Projekt tatsächlich mitgestalten kann, vor allem, wenn man die Hauptrolle spielt und das Projekt von Anfang bis Ende auch darstellerisch trägt. Außerdem habe ich im Laufe der Jahre mit so vielen Crews zusammengearbeitet, mit so vielen unglaublichen Abteilungsleitern, dass es für mich wirklich aufregend war, mitzuentscheiden, wer zu unserem Team gehören würde.

Als Schauspielerin am Set war es wirklich spannend, diese zusätzliche Verantwortung zu haben. Man konnte sich nicht völlig in seinem Job als Schauspielerin verlieren, sondern musste manchmal auch den praktischen Hut aufsetzen. Das war eine tolle Sache für mich.


Sprechen wir über die Distanz und die Dynamik, die Sie zwischen Amy (der Figur im Buch) und Rona (der Figur im Film) aufgebaut haben, und darüber, wie Sie von Amys Erfahrungen profitiert haben, während Sie sich gleichzeitig kreative Freiheiten gelassen haben, um etwas jenseits dieser Erfahrungen zu erforschen.

NF: Mein Instinkt sagte mir von Anfang an, dass wir die Figur umbenennen müssen. Es war uns allen drei wichtig, eine neue Figur zu schaffen, über die wir kreative Entscheidungen treffen und die wir zu etwas Fiktivem erheben konnten. Wir hatten ein Brainstorming, um den richtigen Namen zu finden, und Amy schlug Rona vor, eine Insel in Schottland, und das war der Name, auf den Saoirse am meisten reagierte.

AL: Dieser Vorschlag von Nora ergab für mich Sinn, um bei der Arbeit daran etwas psychologischen Abstand zu gewinnen. Es erlaubte uns, einige fiktive Elemente in die Geschichte einzuführen, die nicht im Buch vorkamen. Das gab mir mehr Freiheit, mich dem Stoff des Buches auf neue Weise zu nähern. Im Laufe der Entwicklung begann ich, Rona nicht nur als auf mir basierend zu sehen, sondern als eine Zusammenarbeit zwischen uns dreien.

SR: Es war für uns alle eine gute Entscheidung, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Als Schauspielerin hatte ich die kreative Freiheit, diese Figur zu meiner eigenen zu machen. Ich habe schon ein paar Rollen gespielt, bei denen es sich um reale Menschen handelte, meist schon verstorben, oder eine Figur, die sehr stark von dem/der FilmemacherIn oder dem/der DrehbuchautorIn inspiriert ist, was teils schwierig als auch wunderbar ist, weil man diese Person für alle aufkommenden Fragen dabei hat. Ich erinnere mich, dass sogar bei „Brooklyn“ Colm Tóibín zum Set kam und ich dachte: ‚Gefällt ihm das? Ist das so richtig?’ Ich glaube, diese Distanz bei THE OUTRUN zu haben, war einfach großartig für mich, damit ich mich frei fühlen konnte, das Ganze in eine etwas andere Richtung zu lenken, wenn es nötig war.

Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die Figur der Rona keine Kopie von der Buchfigur Amy ist. Sie ist inspiriert von Amys Leben und ihrer Reise, den Menschen, die sie getroffen hat, und den Hürden, die sie überwinden musste, aber sie ist eine wunderbare Kombination unserer drei Persönlichkeiten und Energien.

NF: Ich erinnere mich, dass Saoirse mich schon sehr früh fragte: „Willst du, dass ich so wie Amy spreche?“ Aber ich wollte nicht, dass sie ihren Weg in die Rolle findet, indem sie Amy kopiert. Ich wollte, dass sie ihre eigene Sprache findet und ihren eigenen Akzent entwickelt. Wir mussten die Wahrheit darin entdecken, aber die Wahrheit von Saoirse.

SR: Die Sprache ist etwas, das für mich immer sehr wichtig ist, um den Charakter einer Figur einzufangen. Das war es schon immer, und so war es das größte Geschenk von Nora, dass sie mir die Erlaubnis gab, Ronas Sprache zu finden, denn sie bot eine Freiheit und Flüssigkeit, die man nicht immer bekommt, wenn man einen anderen Akzent spricht. Es ist nicht irisch, aber auch nicht völlig orcadisch, und da Amys Akzent ohnehin eine Mischung aus verschiedenen Einflüssen ist, dachten wir, dass es vielleicht ganz gut ist, wenn Elemente von uns allen darin vorkommen.

AL: Als ich Saoirse das erste Mal in der Rolle sah, erschrak ich, wie sehr sie mir ähnelte. Ich weiß nicht, was es war, und ich hatte sie damals noch nicht kennengelernt, und ob sie nur den Spirit meiner Worte las, aber sie war ich. Es war auf eine gute Art und Weise sehr bewegend und hat mich von ihrem Talent und dem, was sie aus der Rolle machen würde, überzeugt. 


Saoirse, wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?

SR: Es war ein Prozess, der viele verschiedene Phasen hatte. Mein absoluter Favorit bei der Arbeit war die lange Vorbereitungszeit. Ein Jahr lang an etwas zu arbeiten, bevor man es tatsächlich dreht, ist ein Geschenk, weil die Figur ganz organisch ihren Weg in deine Knochen finden kann, so dass sie nicht nur oberflächlich ist, sondern sich auch unterbewusst entwickelt. Sie wird ein Teil von dir und du wirst ein Teil von ihr. Nicht gehetzt zu werden, war ein tolles Gefühl.

Wir machten im April 2022 die ersten Voraufnahmen. Die Dreharbeiten waren dann im Juli. Wir mussten so drehen, dass es mit der Lammzeit auf den Orkney Inseln zusammenfiel, die etwas später stattfinden als auf dem schottischen Festland. Das war eine echte Herausforderung für mich, denn ich hatte so etwas noch nie zuvor gemacht. Nach ein paar Tagen auf der Insel The Mainland Orkney musste ich plötzlich dabei helfen, kleine Lämmer auf die Welt zu bringen, und versuchen, so auszusehen, als wüsste ich, was ich da tue. Ins kalte Wasser geworfen zu werden war die erste Etappe!


Alkoholismus kann eine heikle Angelegenheit sein, wenn man ihn auf der Leinwand darstellen will, nicht zuletzt wegen der körperlichen Anforderung, die erforderlich ist, um glaubhaft betrunken zu sein – können Sie über die Choreographie dieser Szenen sprechen und wie Sie sich ihnen näherten?

SR: Ich arbeitete mit Wayne McGregor, einem unglaublichen Choreographen, der in der Tanzwelt sehr angesehen ist. Seine Herangehensweise an diese frühe Phase der Charakterfindung entsprach genau meiner Arbeitsweise. Seitdem versuchte ich, ihn für fast alles zu gewinnen. Wir arbeiteten viel daran, wie Rona sich bewegen würde, wenn sie auf lustige Weise betrunken ist, oder wenn sie schwer und außerordentlich betrunken ist. Aber auch, wie sie sich bewegen würde, wenn sie nüchtern ist, sich erholt und nervös ist, wie sie sich in Gegenwart ihres Vaters und ihres Freundes bewegen würde. Wir spielten all diese verschiedenen Szenarien durch, um mir ein Bewusstsein dafür zu geben, wie ich diese Figur in den verschiedenen Phasen ihres Lebens verkörpern konnte. Das war für mich der wichtigste Einstieg.


Rona ist in mancher Hinsicht eine schwierige Figur. Sie kann egoistisch, ausweichend und scharf zu anderen Menschen sein, und sie befindet sich in einem Muster der Selbstzerstörung – wie haben Sie sich dabei gefühlt, jemanden zu spielen, mit dem das Publikum vielleicht nur schwer mitfühlen kann? Und war es schwierig, diesen Raum emotional zu besetzen?

SR: Ich habe es geliebt! Ich liebe es immer, solche Figuren zu spielen. Es ist sehr einfach, sich davor zu fürchten, denn es gibt diesen fundamentalen Teil als Darstellerin, der gemocht und akzeptiert und geliebt werden will. Man will ja die Leute beeindrucken, die einen beobachten. Ich habe das während der gesamten Zeit oft gesagt, dass ich nicht glaube, dass ich vor drei oder vier Jahren psychologisch bereit gewesen wäre, eine solche Rolle anzunehmen. Ich wäre mir meiner selbst nicht sicher genug gewesen. Ich wäre als Schauspielerin nicht sicher genug gewesen, um mich mutig genug zu fühlen, jemanden zu spielen, dessen hässliche Seiten wir über den gesamten Film sehen. Aber an diesem Punkt in meinem Leben fühlte es sich einfach wie eine totale Befreiung an. Das ist alles, was wir sowieso in uns haben. Es ist ja nicht so, dass Rona schlimmer ist als wir anderen.

Frauen in Fernsehkomödien können schrecklich sein – egoistisch und selbstsüchtig –, wie man es im Film nicht so oft sieht. Ich denke da an Lena Dunhams „Girls“ oder Selina Meyer in „Veep – Die Vizepräsidentin“. Mit ihnen kann ich mich viel besser identifizieren als mit Frauen, die auf diese perfekt heldenhafte oder makellose Art und Weise dargestellt werden, weil wir uns wahrscheinlich die meiste Zeit wie ein schrecklicher Mensch fühlen. Also etwas auf eine wirklich ehrliche und authentische Art und Weise ausdrücken zu können, war eine große Freude. 


Wie haben Sie Ihre Beziehungen zu den Nebendarstellern entwickelt? Die Szenen mit den Schauspielern Saskia Reeves, Stephen Dillane und Paapa Essiedu enthielten so viel Geschichte und Intimität – wie sind Sie vorgegangen, um das zu entwickeln?

NF: Wir hatten zwei oder drei Sitzungen mit den Eltern (Saskia Reeves, Stephen Dillane). Jede für sich und dann gemeinsam, wo wir Szenen aus Ronas Kindheit und ihrer Teenagerzeit improvisierten. Auch wenn man sie im Film nie alle zusammen sieht, war es wichtig, die Dynamik zwischen ihren Eltern zu verstehen. Wir hatten auch ein bisschen Probezeit mit Paapa und Saoirse, in der wir Körperübungen machten und die Schlüsselszenen durchlasen.

SR: Bei Paapa hatten wir wirklich Glück. Ich war bereits ein großer Fan von ihm und freute mich sehr, mit ihm zu arbeiten. Wir machten Probeaufnahmen mit so vielen verschiedenen Schauspielern und bekamen schließlich wir Paapa. Sobald er auftauchte, stimmte die Chemie zwischen uns beiden sofort. Wir haben einen ähnlichen Sinn für Humor. Das war es, was die Beziehung wirklich brauchte, diese sofortige Verbindung, die wir im Film zwischen Rona und Daynin sehen.

NF: Bei der ersten Probe mit Paapa improvisierten wir eine Trennungsszene. Danach sagte Saoirse: „Ich fühlte mich wirklich verlassen“, und wir waren alle untröstlich. Wir mussten ein wenig das Drehbuch ändern, weil Daynin ursprünglich Amerikaner sein sollte, aber Paapas Londoner Art war zu wahrhaftig und perfekt.

SR: Ich kannte Saskia ein wenig, weil sie mit Jack an der Serie „Slow Horses – Ein Fall für Jackson Lamb“ arbeitete. Ich hatte sie also schon ein paar Mal getroffen und Jack hatte auch mit Stephen schon gearbeitet. Für mich war der wichtigste und prägendste Teil der Proben mit den beiden, sie einfach zu beobachten. Sie wuchsen als Schauspieler zusammen auf und liefen sich als sie jünger waren ein paar Mal über den Weg, also war es sehr hilfreich, ihre Dynamik zu beobachten und zu sehen, wie ich in diese Dynamik passen würde.

NF: Es gibt einige Rollen, die von professionellen Schauspielern gespielt werden, und einige Darsteller, die zum ersten Mal spielen oder sich selbst spielen. Wir wollten Realität und Fiktion verschmelzen. Wir drehten an vielen realen Orten, an denen Amy aufwuchs, also wollten wir Einheimische finden, die auch eine orcadische Sensibilität einbringen konnten.

SR: Alle, die am Set waren, waren so offen und bereitwillig und akzeptierten die Zeit, die wir hatten, und die Einschränkungen, die das mit sich bringen würde.


Heilung ist eine ziemlich schwierige Sache, wenn man sie auf der Leinwand darstellen will – es ist eine so private, innere Erfahrung – können Sie also darüber sprechen, wie Sie das für Rona dargestellt haben und dieses Gefühl, dass sie Frieden findet oder gefunden hat?

NF: Der Gedanke der Heilung zieht sich durch das ganze Buch und ist in jeder Szene präsent. Deshalb versucht das Ende, eine knisternde Ästhetik in der Nüchternheit zu finden, dass Rona endlich in der Lage ist, nicht nur nüchtern zu bleiben, sondern die Nüchternheit zu genießen. 

SR: Es gibt ein paar Dinge, die das heilende Element, das Herzstück des Films, besonders beeinflussten. Wir sind alle in einer sehr beängstigenden Zeit für dieses Projekt zusammengekommen. Wir alle erlebten Tod, Verlust, Krankheit und Gefangenschaft, und es war unglaublich zu sehen, wie sich die Menschen in einer Weise der Natur und der Gemeinschaft zuwandten, wie sie es nie zuvor getan hatten. Das wurde für sie zu einer Art Rettungsanker. Ich glaube, wir waren sowieso alle in dieser mentalen Verfassung, und es kam ganz automatisch, dass wir uns von dem Material angezogen fühlten und das auch honorieren wollten.

Außerdem war es sehr hilfreich, dass wir so viel wie möglich in chronologischer Reihenfolge drehten. Wir haben die schweren Sachen zuerst gemacht. Emotional waren wir danach alle so durch, dass wir, als wir 12 auf den Orkneys ankamen und vor allem die reduzierte Crew mit Nora und mir auf Papay, dem letzten Drehort, so verzweifelt nach Ruhe und Frieden und Heilung und Genesung suchten, sogar in uns selbst, dass wir sehr offen dafür waren, einen ganzen Tag im Meer mit den Seehunden zu verbringen.


Die Orkney-Inseln spielen in dem Film eine große Rolle. Können Sie uns mehr über die Erfahrungen und Herausforderungen bei den Dreharbeiten dort erzählen?

NF: Es war eine ziemliche Herausforderung, die gesamte Crew und die Ausrüstung dorthin zu bekommen. Wir mussten dreimal hinfahren, weil die Natur eine so große Rolle in der Geschichte spielt und wir die Geburt der Lämmer und das Nisten der Vögel einfangen wollten. All das passiert zu verschiedenen Zeiten im Jahr. Aber es war nützlich, dass wir die Voraufnahmen machten, bevor wir nach London kamen, denn so hatten wir ein Gefühl dafür, wie Rona aufwuchs und wie die Landschaft aussah. Die Arbeit auf dem Bauernhof ist nicht nur romantisch, sondern auch hart, blutig und anstrengend.


Wie haben die Gemeinschaft und die Einheimischen auf Orkney Sie alle und das Projekt aufgenommen?

NF: Wir hatten eine unglaubliche Unterstützung auf den Orkney Inseln. Alle waren sehr hilfsbereit, offen und neugierig, besonders auf Papay. Für eine winzige Gemeinde war es eine große Umstellung, plötzlich für ein paar Wochen fast doppelt so groß zu sein. Es war eine wunderbare Erfahrung für beide Seiten.

SR: Wir wohnten bei Leuten zu Hause, weil es in Papay kein Hotel gab. Es gibt zwar eine Herberge, aber diese Leute haben uns für vier Wochen aufgenommen. Ich habe noch nie zuvor eine solche Unterstützung erfahren. Es gab einige Bedenken, denn dies ist ein Zufluchtsort für sie, und der Großteil der Welt weiß nicht wirklich, dass Papay existiert. Es ist ein unberührter Teil der schottischen Inseln, so dass es für sie eine große Sache war, uns zu erlauben, es im Wesentlichen zu enthüllen. Wir mussten wirklich ihr Vertrauen gewinnen. Es war wichtig, dass sie in jeden Schritt dieser orcadischen Reise einbezogen wurden.

Im Süden kenne ich die Menschen inzwischen recht gut, aber nicht die Orcadier. Ich habe noch nie jemanden kennengelernt wie die Orcadier. Ihre Herzlichkeit und dieses Art, die Dinge einfach zu machen wie sie kommen. Jeder hat mindestens drei Jobs auf der Insel. Sie sind richtige Macher. Es war von Anfang an inspirierend, das zu erleben.

NF: Sie haben uns auch dabei geholfen, ihre Veranstaltungen und Traditionen nachzustellen, und dafür gesorgt, dass wir das richtig zeigen.

AL: Saoirse hat gelernt, wie man lammt, eine Trockenmauer baut, auf diesen verschiedenen Inseln lebt und lernt, Teil einer kleinen Gemeinschaft zu sein. Sie hat tatsächlich die gleichen Dinge erfahren, die ich im Buch beschreibe. Diese gelebte Erfahrung verleiht dem Film Authentizität und das interessante Wechselspiel zwischen Fakten und Fiktion.


Und Amy, wie war es für Sie, diese Landschaft erneut zu besuchen und die Erinnerungen quasi vor Ihnen ablaufen zu sehen?

AL: Jede Version dieses Prozesses ist eine andere Iteration, die verzerrt wird. Ich kann mich darin ein wenig verlieren und fange an zu vergessen, welche meine echten Erinnerungen sind.


Einige der Szenen im Film sind lebendiger als meine Erinnerungen. Der Ton ist auch unglaublich wichtig. Rona hat, sagen wir mal, diese orchestralen Momente. Und dann natürlich all die Geräusche von Orkney und die Wildheit, die sie hervorrufen – Nora, können Sie darüber sprechen, wie Sie den Soundtrack und das Design des Films gefunden haben? 

NF: Amys Buch war bereits sehr akustisch, so dass sie viele der Geräusche von Orkney beschrieb, z.B. einen bestimmten Vogelgesang oder Windgeräusche. Um auf die farbcodierten Karten zurückzukommen, gab es sogar einen Tonstapel, und es wurde offensichtlich, dass dieser Film eine immersive audiovisuelle Erfahrung sein musste, dass er als Theatererlebnis, für das Kino, konzipiert werden musste. Die Ton-Crew und ich hatten schon bei „Systemsprenger“ zusammengearbeitet. Wir begannen mit der Arbeit am Soundkonzept, während wir das Drehbuch schrieben. Sie waren auch am Set und machten Aufnahmen, so dass wir am Ende der Dreharbeiten aus einem reichen Fundus schöpfen konnten. Aber es gab eine sehr klare, gemeinsame Vision dafür.

Die Komponisten John Gürtler und Jan Miserre arbeiteten auch an „Systemsprenger“. Sie erstellten ein Konzept, das auf allen Instrumenten basiert, die seit Jahrhunderten in der orcadischen Musik verwendet wurden und arbeiteten mit lokalen Musikexperten zusammen, um den Klang zu verstehen. Sie ließen auch die Natur in die Musik einfließen, verzerrte Vogelstimmen, Windröhren und schufen all diese unheimlichen Klänge.


Auch die Bildsprache des Films ist ein inneres Erlebnis, aber der Film ist mit Archiv- und Animationsstücken unterbrochen, die Kontext und Geschichte hinzufügen…

NF: Die Geschichte hat drei Ebenen: die Orkney-Ebene, die eher grau, bläulich und grünlich ist, die in London verankerte Erinnerungsebene, die bunt, rosa und orange ist und das extreme Gegenteil darstellt, so dass beide miteinander verwoben sind. Und die dritte Ebene ist die geistige Ebene, die wie Amys Gehirn und ihre Gedankengänge ist. Sie kann abstrakt, lebendig und anarchisch sein.


Wie war die Arbeit im Schnitt? Wie haben Sie das gesamte Filmmaterial zusammengestellt, um Ronas recht stürmische emotionale Reise darzustellen?

NF: Unser erster Rohschnitt dauerte dreieinhalb Stunden, aber das ist nur der Prozess. Wir haben sehr eng mit unserem wunderbaren Cutter Stephan Bechinger zusammengearbeitet, um uns auf Ronas Reise zu konzentrieren, trotz der unterschiedlichen Zeitachsen und der vielen unterschiedlichen Figuren, die sie umgeben. Es geht darum, den Ort zu finden, zu dem jede Szene gehört und wo sie nirgendwo anders sein kann.


Und was haben Sie an Erfahrung mitgenommen?

SR: Ich glaube, ich habe eine Freude an der Arbeit gefunden, die ich für eine Weile verloren hatte. Ich war so viel stärker involviert als je zuvor, und der Stolz, den man aus dieser Art der Arbeit empfindet, ist einzigartig. Es war das größte Geschenk, Menschen dabei zu haben, die ich persönlich wirklich liebe, und dabei neue, wundervolle Menschen kennengelernt zu haben. Und dann die Orkney Inseln und ihre Menschen zu entdecken, ist etwas, das ich immer bei mir tragen werde.

AL: Es ist ein unwiederholbares Erlebnis, das Buch meines Lebens verfilmt zu bekommen. Es ist der Stoff, aus dem Fantasien entstehen. Es war ein absolutes Privileg, mit diesem Team zusammenzuarbeiten, und ich versuche einfach, es zu genießen.

NF: Für uns alle ist es ein Film, der über den professionellen Rahmen hinausgeht. Es war in vielerlei Hinsicht sehr persönlich und eine Reise in unbekanntes Terrain, gemeinsam auf dieser winzigen Insel zu sein. Einige der Dinge, die wir drehen mussten, waren sehr extrem und wir mussten diesen Prozess gemeinsam und mit Rona durchlaufen. Es hat mein Leben verändert und war eine wundervolle Erfahrung.

Foto:
©Verleih

Info:
The Outrun (Deutschland, Großbritannien 2024) 
Genre: Drama, Alkohol, Landschaft, Orkney-Inseln, Romanverfilmung
Filmlänge: ca. 119 Min.
Regie: Nora Fingscheidt
Drehbuch: Amy Liptrot, Nora Fingscheidt
nach Amy Liptrot: The Outrun (2016); deutsch: Nachtlichter (2019)
Darsteller: Saoirse Ronan, Paapa Essiedu, Stephen Dillane, Saskia Reeves, Nabil Elouahabi, Izuka Hoyle, Lauren Lyle u.a.
FSK: ab 12 Jahren