Mareike Engelhardt
Paris Weltexpresso) – Der Ausgangspunkt meines Filmes ist das Unbegreifliche. Als ich im März 2016 in einer McDonald's-Filiale in Saint-Etienne Sonia kennen lernte, war ich zutiefst erschüttert. Mir gegenüber saß eine junge Frau, die vor kurzem aus Syrien zurückgekehrt war, wo sie mehrere Monate als Mitglied der Terrororganisation Islamischer Staat verbracht hatte. Sie erzählt mir von ihrer Weltanschauung, die auf Hass und Ausgrenzung, Rache und Angst beruht. Ich hatte dieses Treffen veranlasst, um herauszufinden, warum eine junge Frau, die in einer demokratischen Gesellschaft lebt, in der sie größte Freiheiten genießt, sich einem totalitären System anschließt, das eine mörderische Ideologie vertritt, die ihr alle Freiheiten nimmt. Ich treffe mich regelmäßig mit dieser jungen Frau und anderen aus verschiedenen sozialen Schichten stammenden Rückkehrerinnen unterschiedlichster Nationalitäten.
Ihre Berichte bilden die Grundlage meines Drehbuchs. Sie stammen meist aus europäischen Ländern, sprechen wenig oder gar kein Arabisch und wissen kaum etwas über den Islam noch über das Land, in das sie reisten. Sie versuchen, die Dysfunktionalität in ihrem Leben und den grundlegenden emotionalen Mangel zu beheben, indem sie sich einem System anschließen, das ihnen in seiner Strenge Sicherheit gibt, und vor allem einen echten Wert als Individuum. Ihre Motivation ist weniger religiös oder politisch als psychologischer Natur. Hier im Intimen beginnt der Radikalisierungsprozess und genau an dieser Stelle setzt mein Film an. Bei der Anhörung der Prozesse dieser Mädchen vor dem Pariser Gericht wird mir auch die Verbindung zu meiner eigenen Geschichte endlich lesbar. Im Grunde geht es um die Frage, die mich und alle Deutschen meiner Generation beschäftigt: Wie kann es passieren, dass man im Laufe seines Lebens auf die falsche Seite gerät? Wie ist es möglich, von einem System absorbiert zu werden, dass einem die Menschlichkeit raubt? Und vor allem: Warum bleiben die Menschen dort und brechen nicht aus?
EINE PERSÖNLICHE GESCHICHTE
Sonia war 17 Jahre alt, als sie sich radikalisierte, im gleichen Alter wie meine Großeltern, als sie sich der Hitlerjugend und später der SS anschlossen, verblendet von einer Ideologie, die sich auf ähnliche
Denksysteme stützt wie die von Terrororganisationen wie dem Islamischen Staat. Ich gehöre zur letzten Generation, die diejenigen persönlich gekannt hat, die an einem der schlimmsten Verbrechen gegen die
Menschlichkeit beteiligt waren. Begraben unter dem Gefühl der Schande und sorgfältig von meinen Eltern versteckt, um „mich zu verschonen“, wurde nie darüber gesprochen. Dieser Familienschatten verfolgt
mich seitdem und die Frage nach der Faszination des Bösen wurde zum roten Faden meiner Arbeit. Mein Ansatz ist es nicht, Vergleiche zwischen dem islamistischen Terrorismus und dem Nationalsozialismus
zu ziehen, sondern mein Film soll daran erinnern, dass diese Frauen unsere Kinder, Töchter, Nachbarinnen sind und ihr Handeln nichts mit einer Religion zu tun hat, sondern eine klare Dysfunktionalität unserer Gesellschaft aufzeigt. Gemeinsam müssen wir uns dieser stellen, statt davor zu fliehen. RABIA ist weder ein Film über den Islam noch den Dschihad, sondern über Massenmanipulation, die Mechanismen der Entmenschlichung und die Frustration einer Jugend ohne Orientierung. Rabia, die von Megan Northam gespielte Figur, wird vom Opfer zum Täter, wodurch sie den Zuschauer dazu zwingt, seine eigenen Entscheidungen zu hinterfragen. Der Film erinnert daran, wozu der Mensch fähig ist, um zu verhindern, dass so etwas noch einmal passiert, egal unter welcher Religion oder Ideologie.
DIE MADAFA - DIE WELT DER FRAUEN
Die Bilder von Krieg und Gewalt im Nahen Osten, der vom Islamischen Staat ausgeübte Terror in den Straßen von Raqqa sind mittlerweile leider Teil unserer kollektiven Vorstellungswelt geworden. Doch ohne zu vereinfachen und die Realität zu beschönigen, möchte ich zeigen, welchen Platz Frauen in dieser Terroristenorganisation einnehmen. Denn es existiert ein System der Unterdrückung von Frauen durch Frauen, über das wenig gesprochen wird und in dessen Zentrum die „Madafas“ stehen. In diese Häuser wurden unverheiratete Frauen oder Witwen eingesperrt, um sie durch Speeddating Sessions zu verheiraten. Hier prallten auf engstem Raum nicht nur Orient und Okzident aufeinander, sondern auch alle großen Themen des Lebens einer jungen Frau, wie die unterschiedlichen Vorstellungen von Jungfräulichkeit, Mutterschaft, Liebe und Tod. Diese Orte wurden zumeist von Frauen geleitet, die bekannteste und gefürchtetste von ihnen, die Marokkanerin Fatiha Mejjati (auch Umm Adam genannt), diente als Inspiration für die Figur der Madame (Lubna Azabal). Diese Häuser sind eine seltsame Mischung aus Gefängnis, Bordell und Jugendherberge und erinnerten mich sofort an die „Lebensborn“, die Häuser der Nazis, in die sie Frauen sperrten, die zur Fortpflanzung der arischen Rasse dienen sollten. Tausende von Kilometern entfernt und siebzig Jahre später eine so ähnliche Einrichtung zu finden, hat mich zutiefst schockiert. Für mich war es entscheidend, dass sich die Handlung des gesamten Filmes in diesem geschlossenen Raum abspielt. So wird der politische Kontext zu einem dramaturgischen Rahmen,
innerhalb dessen ich die menschlichen Beziehungen auslote.
VOM DOKUMENTARISCHEN SCHREIBEN ZUM SPIELFILM
Das Thema machte eine mehrere Jahre andauernde umfangreiche Recherchearbeit notwendig, bei der ich die kostbare Hilfe von den beiden französischen Expertinnen für weiblichen Dschihadismus, Céline
Martelet und Edith Bouvier bekam, die mir mehrere Mädchen vorstellten, die in den Madafas von Umm Adam gelebt hatten. Diesen jungen Frauen beschrieben mir detailliert ihr Leben (von einigen Tagen bis
zu mehreren Monaten) in diesen von der Außenwelt abgeschnittenen Häusern. Zusammen mit meinem Co-Autor Samuel Doux haben wir die romanfüllenden Geschichten dieser Frauen verknüpft und an einem
Ort zusammengeführt. Dabei ist nichts ist erfunden, im Gegenteil: Viele Details waren so unglaublich und brutal, dass ich oftmals die Realität "abschwächen" musste, um sie für den Zuschauer glaubwürdig zu
machen und ihm zu ermöglichen den Film überhaupt anschauen zu können. Was mich an den Erzählungen erstaunte, war die Tatsache, dass sich die Mädchen keineswegs als Opfer sahen. Obwohl diese Positionierung die Grundlage ihrer Verteidigung vor den europäischen Gerichten darstellt, wurde in unseren Gesprächen deutlich, dass sie genau wie die Männer, fast alle wussten, wohin sie gingen und warum. Statt naiver, etwas dummer Mädchen, die dem Märchenprinzen nachreisen, können sie genauso engagierte, fanatische Verteidigerinnen dieser mörderischen Ideologie sein wie die Männer. Es ist mir ein feministisches Anliegen in RABIA – DER VERLORENE TRAUM zu zeigen, dass Frauen genauso schuldig sein können wie Männer, da ich es für sehr wichtig halte komplexe
Frauenfiguren in ihrer ganzen Ambivalenz zu zeigen. Diese Darstellungen fehlen mir aktuell noch zu häufig in der cinematographischen Landschaft.
VON DER REALITÄT ZUR FIKTION. DIE ARBEIT MIT DEN SCHAUSPIELERINNEN
Megan Northam die Rolle von Jessica/Rabia zu geben war für mich eine Evidenz. Mich faszinierte die Kraft in ihrem Blick, die im Kontrast zu ihrem mädchenhaften Aussehen, den hellen Augen und den
blonden Haaren steht. Neben ihrer magnetischen Intensität schafft sie es ständig zwischen verschiedenen emotionalen Zuständen zu sein, mit der Mischung aus Härte und einer verborgenen Zerbrechlichkeit, die sich dauernd verändert. Lubna Azabal hat mich seit INCENDIES nicht mehr losgelassen. Die Tiefe ihres Blicks, die Distanz, die sie durch ihr Spiel herstellt, die Autorität, das Geheimnis, das sie trotz ihrer sanften Erscheinung ausstrahlt. Ich sah nur sie für die Rolle der Madame. Sie kannte die Geschichte von „Umm Adam“, die sie seit Jahren verfolgt und die sie genauso fasziniert wie mich. Während der Vorbereitung organisierten wir betreute Treffen zwischen den Hauptdarstellerinnen und Frauen, die in Madafas gelebt hatten. Diese Treffen waren für die Schauspielerinnen entscheidend, da sie ihnen halfen die Tragweite der Geschichte und ihrer Rollen nicht nur zu verstehen, sondern auch zu fühlen. Eine dieser ehemaligen Mitglieder des Islamischen Staates war mit uns am Set und erzählte den Statistinnen, wie sie bestimmte Situationen, die im Drehbuch vorkommen, erlebt hatte. Diese Sequenzen haben dadurch an Kraft und Wahrhaftigkeit gewonnen.
DEN ABSTIEG IN DIE HÖLLE FILMEN, DER "HORS-CHAMP"
Niemand hat je das Innere einer Madafa gefilmt oder fotografiert. Ich wollte das zu einer Stärke des Films machen. Mit Dan Bevan (Ausstattung) haben wir uns einen Ort ausgedacht, der durch seine Architektur und seine innere Organisation die Idee einer Reproduktionsfabrik erzählt, mit einer sehr lesbaren Hierarchie, die Rabia durchqueren wird: von den Untergeschossen, in denen es von yezidischen
Sklavinnen wimmelt, bis zu den geräumigen und komfortablen oberen Etagen, in denen Madame wohnt. Rabias Weg stellt den Abstieg vom Paradies in die Hölle dar, die Zerstörung eines Traums. Die Figur
beginnt ihre Reise im Himmel, nahe einer blendenden Sonne und den sanften Wolken, hinter denen sie sich ihr erträumtes Paradies vorstellt. Statt es zu erreichen, landet sie auf der verbrannten Erde eines
Landes, in dem Krieg herrscht. Dieses Thema hat uns bei unseren ästhetischen Entscheidungen geleitet.
Mit Agnès Godard (Kamera) haben wir versucht, durch das Licht einen psychischen Raum zu schaffen, der die Empfindungen dieser Frauen einfängt, wobei wir uns vom Naturalismus entfernt haben. Dasselbe
gilt für die Verwendung von Farben im Bühnenbild und in den Kostümen, die mit der Entwicklung von Rabia, die immer mehr wie Madame wird, dunkler und reduziert werden. Die Frage der Darstellung von mit Gewalt ist unumgänglich, da sie in diesem System allgegenwärtig ist. Außer in drei Schlüsselmomenten, die jeweils eine wichtige Etappe in Rabias Transformation darstellen, habe ich mich dafür entschieden, sie nie frontal zu zeigen. Einerseits wollte ich jeglichen Voyeurismus vermeiden, andererseits wollte ich die Verweigerung dieser Frauen unterstreichen das Leid, die Ungerechtigkeit und den Horror zu sehen. Die Frage des "Hors-champ" wird somit zentral, denn der Schrecken von außen dringt über die Spuren auf den Körpern und die Geräusche ein, die Rabia zunächst nicht hören will, die aber gegen Ende des Films immer mehr hervortreten.
Der Wechsel auf die Seite der Täter wirft zwangsläufig die Frage der Identifikation, des Urteils und damit der physischen und emotionalen Beziehung zur Figur auf. Damit wird selbst die Wahl des richtigen Ortes für die Kamera zu einer moralischen Frage. Ich wollte dem Zuschauer den Zugang zu Rabias Emotionen ermöglichen. Gleichzeitig musste ich jedoch eine Distanz finden, die eine kritische Reflexion über die Entscheidungen der Figur ermöglicht, mit dem Ziel, einen Film zu machen, der zu verstehen versucht, ohne zu entschuldigen.
Foto:
©Verleih
Info:
BESETZUNG
Jessica/Rabia. Megan Northam
Madame Lubna Azabal
Laïla Natacha Krief
Uum Mikail Klara Wördemann
Uum Mansour. Maria Wördemann
Uum Maryam. Lena Lauzemis
Der Kämpfer. Andranic Manet
Uum Zayd. Lena Urzendowsky
STAB
Regie. Mareike Engelhardt
Drehbuch. Mareike Engelhardt, Co-Autor Samuel Doux
TECHNISCHE DATEN
Produktionsland. Frankreich, Deutschland und Belgien
Jahr 2024
Filmlänge. 94 Minuten
Format. 1:1,85
Abdruck aus dem Prresseheft