Filmfestival Locarno 2014, Teil 2
Kirsten Liese
Locarno (Weltexpresso) - Selten waren sich Kritiker und Juroren so einig über den Favoriten: Zu Recht gewann mit „Mula sa kung ano ang noon“ („From What is Before“) ein Epos den Goldenen Leoparden und den Fipresci-Kritikerpreis, das iden Wettbewerb in künstlerischer Hinsicht überragte.
Mit dem russischen Drama „Durak“ („The Fool“) um einen Architekturstudenten, der allein um 800 Menschenleben in einer korrupten russischen Kleinstadt kämpft, fand ein weiteres bemerkenswertes Werk Beachtung, wenngleich auch nur mit einem Darstellerpreis für Artem Bystrov.
Andere Juwelen übersah die Jury unter dem Vorsitz von Gianfranco Rosi, allen voran Eugène Greens französisch-italienisches Meisterwerk „La Sapienza“, ein feinfühliges Kammerspiel um ein Paar, das erst nach der Begegnung mit zwei jungen Geschwistern die Kraft findet, eine langjährige Mauer des Schweigens zu brechen. Auf raffinierte Weise spiegeln sich Schicksale in den Lebensgeschichten der vier Personen. Bei aller Melancholie feiert dieser Film aber auch mit imposanten Bildern die Schönheit der Tessiner Landschaft, die Architektur barocker italienischer Meister, Monteverdis Musik und eine Sprache, die so kultiviert tönt wie im Theater. Eine faszinierende Ode an die Kunst!
Mit Park Jungbums dreistündigem Drama „Alive“ konkurrierte auch ein Meisterwerk aus Südkorea um die Leoparden, das den Vergleich mit so preisgekrönten chinesischen Werken wie „Feuerwerk am helllichten Tage“ oder „A Touch of Sin“ aufnehmen kann.
Für wenig Geld, das kaum zum Leben reicht und rundum die Uhr schuften die Arbeiter hier in einer Fabrik für Sojabohnenpaste. Wer nicht im Akkord den Soll erfüllt, riskiert seinen Lohn oder sogar seinen Job. Für Jungchul, den Protagonisten ist die Situation besonders prekär, muss er sich doch – obwohl ihm kaum Zeit dazu bleibt – um seine psychisch erkrankte Schwester und deren uneheliche kleine Tochter kümmern.
Zur besten Darstellerin ernannte die Jury Ariane Labed, eine junge Schauspielerin die mit ihrer femininen Schönheit an Kristin Scott Thomas erinnert, allerdings keine anspruchsvollen Herausforderungen in dem französischen Schiffsee-Drama „Fidelio, L’Odyssée D’Alice“, in dem es überwiegend um Sex geht, zu bewältigen hatte.
Auch für die übrigen Leoparden gab es stärkere Anwärter als die amerikanische Independentkomödie „Listen Up To Philip“ um einen unsympathischen Schriftsteller, der es sich mit allen verscherzt (Spezialpreis der Jury), oder das portugiesische Werk „Cavalo Dinheiro“ um rebellische Schwarze (Regiepreis).
Alles in allem aber war dies ein ungewöhnlich starker Jahrgang in Locarno. Schon in wenigen Jahren kommen einige der hier entdeckten Talente bestimmt auch da an, wo sich die großen Namen versammeln: in Cannes oder Venedig.
INFO:
Das Festival del film Locarno 2014 fand vom 6.bis 16. August zum 67sten Mal statt. Der Hauptpreis, der Goldene Leopard, ging an Lav Diaz. Der philippinische Regisseur wurde für sein Historiendrama FROM WHAT IS BEFORE ( Von dem, was war) in der Länge von fünfeinhalb Stunden ausgezeichnet, was ganz im Sinne der Kritiker und des Publikums war.