Filmfestival Locarno 2014, Teil 1
Kirsten Liese
Locarno (Weltexpresso) - Soll noch einer sagen, die besten Filme liefen nur in Cannes und Venedig: Zwar trifft es zu, dass so berühmte Regisseure wie Michael Haneke oder Woody Allen vorzugsweise dort Weltpremieren feiern. Dafür lieferte das 67. Festival del film Locarno den Beweis, dass man einen Wettbewerb auch ohne große Namen auf einem sensationell hohen Niveau ausrichten kann, vorausgesetzt, man besitzt eine gute Spürnase für Talente und guten Geschmack.
Beides hat Carlo Chatrian, der seine erste Ausgabe und auch so manche Berlinale-Ausgabe bei weitem übertraf. Dank dessen ließ sich auch die von politischen Moralaposteln verschuldete Absage Polanskis verkraften.
Wäre dem Festival doch nur ein besseres Wetter vergönnt gewesen. Oft schüttete es dermaßen wie aus Kübeln, dass selbst ein Regenschirm einen nicht davor bewahren konnte, völlig durchnässt Platz zu nehmen. Selten gewitterte es in Locarno so unaufhörlich. Nur an einem einzigen Vormittag entfaltete die herrliche Tessiner Landschaft um den Lago Maggiore bei Sonnenschein seine Pracht. Auf Dauer schlägt einem das aufs Gemüt, die Stimmung auf dem malerischen Piazza Grande, dem von Restaurants und Luxusgeschäften umrahmten Hauptanziehungspunkt des Festivals mit abendlichen Freilichtvorführungen, ist inmitten all der Pfützen auch nur halb so schön.
Eine imposante Riege an Stars präsentierte sich dort gleichwohl
Nach Agnès Varda, Armin Mueller-Stahl, Giancarlo Giannini und Melanie Griffith gehörte die Bühne Mia Farrow und Juliette Binoche. Mia Farrow dankte für den ihr verliehenen Club Leopard Award, gab aber zu, das Interesse am Film verloren zu haben. Sie nutze lieber ihre Bekanntheit, um als Unicef-Botschafterin in Ländern wie Zentralafrika über Krisen zu sprechen, wo „die dunkelste Seite der menschlichen Natur wütet“. Auf ihren Ex-Mann Woody Allen, gegen den sie 1993 wegen Kindesmissbrauchs einen Prozess anstrengte, will sie nicht mehr angesprochen werden.
Juliette Binoche, auf der Piazza in ihrem jüngsten Film „Sils Maria“ von Olivier Assayas zu erleben, freute sich über den ihr verliehenen Excellence Award Moët & Chandon. Freiheit sei ihr schon immer sehr wichtig gewesen, betonte die Aktrice, der Leopard sei für sie „ein Tier, das mehr als alles andere die Freiheit repräsentiert“. Im Gegensatz zu den Vorjahren, in denen auf dem Renaissance-Marktplatz oft anspruchsvollere Filme liefen als im Wettbewerb, war es in diesem Jahr tendenziell eher umgekehrt. Leider hinterließen auch die einzigen beiden deutschen Weltpremieren im Piazza-Programm einen schwächeren Eindruck.
Dass Christian Zübert mit seiner prominent besetzten Tragikomödie „Hin und Weg“ allemal einen wesentlichen, wenn auch nicht gerade subtilen Beitrag zu dem in Deutschland noch immer tabuisierten, diskussionswerten Thema Sterbehilfe leistet, steht dabei außer Frage. Doch wird man das Gefühl nicht los, diesen Film schon einmal gesehen zu haben. Dramaturgie, Dialoge und leichte Anflüge von Pathos erinnern allzu sehr an Frederik Steiners Drama „Und morgen Mittag bin ich tot“.
„Die Einsamkeit des Killers vor dem Schuss“ von Florian Mischa Böder bietet dagegen durchaus unabsehbare Wendungen. Als Satire taugt dieses Roadmovie um einen unterbeschäftigten Profikiller der EU, für den ein lang ersehnter Auftrag zur schmerzensreichen Odyssee wird, allerdings weniger. Action rangiert hier deutlich vor politischem Biss.
Wer große Filmkunst erleben wollte, war im Wettbewerb ohnehin besser aufgehoben. Fortsetzung folgt.
INFO:
Das Festival del film Locarno 2014 fand vom 6. bis 16. August zum 67sten Mal statt. Der Hauptpreis, der Goldene Leopard, ging an Lav Diaz. Der philippinische Regisseur wurde für sein Historiendrama FROM WHAT IS BEFORE ( Von dem, was war) in der Länge von fünfeinhalb Stunden ausgezeichnet, was ganz im Sinne der Kritiker und des Publikums war.