tutlendrWas die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle vorhat, BERLINALE 2025, Teil 26

Redaktion

Berlin (Weltexpresso) - Nach den Antisemitismus-Vorwürfen im vergangenen Jahr, will die neue Berlinale-Chefin Tricia Tuttle das Filmfestival zum Ort des offenen Dialogs machen. «Je mehr die Debatte sich radikalisiert, desto dringender brauchen wir einen Ort für differenzierte Gespräche»,sagte die Intendantin der «Neuen Osnabrücker Zeitung».  


«Darum drehen sich all unsere Team-Absprachen, darauf trainieren wir die Moderatoren und dafür sensibilisieren wir auch unsere Gäste.» Man fordere ein respektvolles Gespräch und bestehe darauf, dass jeder seine Meinung äußern dürfe, sagte die Amerikanerin.

«Natürlich sehe ich eine rote Linie, wo es in den Antisemitismus kippt», sagte Tuttle. «Gleichzeitig ist es wichtig, im Gespräch zu bleiben und Komplexität zuzulassen». Nach der Abschlussgala 2024 hatte es Kritik bis hin zu Vorwürfen von Israelhass und Antisemitismus gehagelt.

Tuttle, die letztes Jahr noch nicht Berlinale-Chefin war, sagte, 2024 seien Fehler gemacht worden: Es sei nicht der Pluralismus erreicht worden, für den das Festival stehe. "Einem Teil unserer Community gegenüber haben wir es an Mitgefühl mangeln lassen. So einseitig wie auf der Preisgala dürfen wir nicht noch einmal werden."

Als Beispiel nannte sie den Schauspieler David Cunio, der 2013 einen Film auf der Berlinale gehabt habe und nun Geisel der islamistischen Hamas sei. «Wenn wir auf der Gala für ihn eingetreten wären - worum wir mehrfach gebeten wurden -, dann hätte es den Tonfall des Abends schon verändert.» In diesem Jahr zeige man den Film «A Letter to David», der von David Cunio handele.


IM WORTLAUT:

Versammelt persönlich, skizzenhaft und in aller Kürze: Beobachtungen und Reflexionen der Berlinale LeitungAnmerkungen zu Meinungsfreiheit, Brave Spaces und Film

notiert von Tricia Tuttle

Wir sind ein Filmfestival. Aber die Berlinale ist auch eine Gemeinschaft von Menschen, die sich in ihrem Bestreben treffen, ein integratives, offenes Umfeld für das Kino zu schaffen. 
Auch wenn wir es nicht als selbstverständlich ansehen können - weder eine gesunde Zukunft für das unabhängige Kino noch die Art von kulturellem Umfeld, das wir erhalten wollen - gibt es für beides Grund zur Hoffnung. Wir schätzen und schützen das Recht auf freie Meinungsäußerung. Aber wie wir in Online-Räumen auf der ganzen Welt sehen, reicht es nicht aus sich für die Meinungsfreiheit einzusetzen. Wir müssen Wohlwollen zeigen, uns um die Fakten kümmern und den Wunsch äußern, nicht nur zu sprechen, sondern auch zu hoffen, dass uns auch zugehört wird.

Vielleicht müssen wir zuerst nach gegenseitigem Verständnis streben. Das Kino selbst verlangt danach, und besonders die Art des Kinos, das die Berlinale liebt und fördert. Wir wissen, dass wir angesichts der zunehmend fragmentierten Debatten hinter den Erwartungen mancher Menschen zurückbleiben werden.  Eine Woche vor der 75. Berlinale wollen wir unsere Entschlossenheit bekräftigen, diesen Ort als das integrative Umfeld zu sehen, das Filmemacher*innen, die Filmindustrie und das Publikum verdienen.

Vieles wurde der Berlinale letztes Jahr vorgeworfen, auch Widersprüchliches, das nicht alles gleichzeitig stimmen kann. An meinem zehnten Tag im Amt, im April letzten Jahres, wurde ich vor den parteiübergreifenden Kultur- und Medienausschuss des Deutschen Bundestages geladen, um Fragen zu Antisemitismusvorwürfen während der letzten Berlinale zu beantworten. Ein schwieriges Erbe, bei dem ich viel Zeit damit verbrachte, die Dynamiken zu verstehen und sowohl der eigenen Versuchung als auch dem Druck von außen zu widerstehen, die Dinge zu vereinfachen. 

Kürzlich habe ich meine damaligen Ausführungen vor dem Bundestagsausschuss nachgelesen: „Als internationales Festival ist es wirklich wichtig, dass wir weiterhin offen und einladend gegenüber allen Menschen auf der Welt sind ... wir versuchen Räume zu bewahren, wo israelische und palästinensische Filmschaffende sich so ausdrücken können, dass sie sich sicher fühlen. Wenn der Dialog eskaliert oder es zu böswilligen Falschdarstellungen kommt, ist das nie hilfreich. Ich glaube wirklich, dass wir hier eine Gefahr für die Filmemacher*innen schaffen, und deshalb ist es für mich besonders wichtig, dass wir als Verantwortliche deeskalieren, das Bewusstsein weiter schärfen und aus dem Dialog lernen." 

Ein sorgsamer Umgang mit der Sprache schützt unsere Filmemacher*innen und stärkt die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen und einander zuzuhören. Auch wenn im Kontext des letzten Jahres über Israel und Palästina gesprochen habe, gelten diese Gedanken für alle unsere Filmemacher*innen und Gäste aus der ganzen Welt. Sie schaffen Filme oftmals auch entgegen der Schwierigkeiten - und manchmal auch gegen Widerstände und Gefahren. Filme, die den Kampf von Vielen dokumentieren und reflektieren: mit prekären Wirtschaftsverhältnissen, Krieg, wachsendem Nationalismus und Autoritarismus, zunehmender Bigotterie und Frauenfeindlichkeit, Gesundheitskrisen und Mangel an Wohnraum, den Auswirkungen des Klimawandels sowie politischer und rechtlicher Entmündigung. Dass unsere Filmemacher*innen die Themen mit so viel Schärfe, Menschlichkeit und außerordentlichem kreativem und erzählerischem Geschick angehen, macht uns immer wieder demütig.
Über das Sprechen
Wenn die Berlinale zur Story gemacht wird, nehmen wir den Filmen und Filmschaffenden ihre Aufmerksamkeit. Oftmals ist es in einer konflikthungrigen Welt schwer genug, den nötigen Raum für Diskussionen über das Kino zu öffnen. Aber manchmal müssen wir reden. Und genau das tue ich jetzt in der Hoffnung, dass die Filme und Filmemacher*innen der 75. Berlinale vom 13. bis 23. Februar eben diese Aufmerksamkeit bekommen. Eine Aufmerksamkeit, die die vielen wundervollen Filme verdient haben.

Ich bekräftige unser Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und dass wir uns weiterhin gegen Hassreden und Diskriminierung einsetzen, wie wir es schon immer getan haben. Wir schützen das Recht der Filmschaffenden, sich mittels ihrer Arbeiten oder der Impulse dahinter selbst zum Ausdruck zu bringen. Wir glauben an das Recht von Filmemacher*innen ihre Plattformen zu nutzen, um über die Themen zu sprechen, die sie bewegen oder beunruhigen. Das ist Meinungsfreiheit. Natürlich ist es möglich, dass Menschen mit dem Gesagten nicht einverstanden sind und ihre Ablehnung zum Ausdruck bringen. Das ist ebenso Meinungsfreiheit.

Im Zusammenhang gab es rundum die Berlinale viele Falschdarstellungen, Missverständnisse oder schlicht Ängste. Es entgeht uns nicht, in welcher Weise Plattformen in Deutschland und in der Welt als feindliche Räume für Menschen empfunden wurden, die ihre Solidarität mit Palästina ausdrücken wollten. Wir sehen auch, dass eine Feindseligkeit gegenüber Israel im kulturellen Umfeld zu einem Verlust von Empathie geführt hat. Wir sind besorgt über die wachsende Islamophobie und den zunehmenden Antisemitismus sowohl in Deutschland als auch in der ganzen Welt. Wir sorgen uns um unsere Filmemacher*innen und Filmgemeinschaften, die durch den Diskurs um das Festival Schaden genommen haben. Wir wissen auch, dass Schweigen und das Gefühl des Unsichtbarmachens Menschen verletzen können. 

Wir veröffentlichen heute FAQs, in denen wir einige für uns wichtige Dinge, aber auch Missverständnisse ansprechen. Es stimmt zum Beispiel nicht, dass wir kommuniziert haben, dass Akkreditierte keine Kleidung mit Sympathiebekundungen für Palästina tragen dürfen. Falschinformationen zu korrigieren ist schwierig, insbesondere wenn sie immer und immer wieder neu verbreitet werden.
Ich erlebe mein Team, unsere Mitarbeiter*innen und freien Mitarbeiter*innen seit meinem Amtsantritt im April in einem Strudel konkurrierender Spannungen. Ich bin besorgt, wie dieser immense, manchmal unmöglich auszuhaltende Druck von allen Seiten so viele umsichtige und engagierte Kolleg*innen beeinflusst. Wir sind keine Politiker*innen. Wir sind Menschen, die ein wichtiges, faires und einladendes Filmfestival gestalten wollen. Wir wollen die Menschen, die uns am Herzen liegen, nicht im Stich lassen. Unser Team kann in dieser Situation nicht alleine stehen, und wenn wir es versuchen sollten, werden wir verlieren. Wir brauchen die Gemeinschaft unserer Community. Wir sind allen Filmemacher*innen, unseren Besucher*innen und Gästen sowie der Industrie sehr dankbar für die kommenden Begegnungen und freuen uns auf ein Wiedersehen mit denjenigen, die dieses Jahr nicht dabei sind. 

Wir wissen, dass nicht alle mit einer Stimme sprechen werden, genauso wenig wie unsere Mitarbeiter*innen oder Festivalpartner. Aber die meisten kommen in der geteilten Hoffnung zusammen, voneinander zu lernen, und der Überzeugung folgende, dass Filmemacher*innen uns helfen eine bessere Welt zu sehen und uns diese vorzustellen.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit mit Ihnen, damit die Berlinale auch weiterhin ein Erfolg für unsere Communities bleibt.


Foto:
©NDR

Info:
Nachdruck des Artikels mit freundlicher Genehmigung aus dem Wochenmagazin TACHLES vom 11. Februar 2025