Die 75. Internationalen Filmfestspiele Berlin, BERLINALE 2025, Vor dem Wettbewerb Teil 4
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Dieser Film ist dann eine Wucht, wenn man weiß und es eben auch fühlt, daß dies ein Frauenfilm ist, in dem zwar Männer vorkommen, die aber weiter keine Rolle spielen, bis auf den einen, denn spanischen Wunderdoktor Dr. Gómez (Vincent Perez), Dieser Ausgangspunkt ist wichtig, weil wir es mit drei, sehr unterschiedlich versehrten Frauen zu tun haben, denn nur bei der im Rollstuhl sitzenden älteren Rose ist das auch zu sehenDiese über sechzigjährige Rose (Fiona Shaw), die als junges Mädchen aus Irland der Familie nach London entfloh, und ihre Tochter, die ewige Anthropologiestudentin Sofia (Emma Mackey) um sich haben muß, ist der Motor und das Zentrum der Geschichte.
Seit der griechische Vater die Mutter verlassen hatte, Sofia war damals 4 Jahre, ist die Mutter gelähmt, kann aber ca. einmal im Jahr – so sagt sie es selbst – gehen. Da stimmt was nicht, ahnt die Zuschauerin sofort. Alle Therapien, die sie versucht hatte, alle Ärzte, die sie besucht hatten, konnten ihr nicht helfen, weshalb sie als letzte Hoffnung zu Dr. Gómez kommt, denn seine außerordentlichen Heilmethoden haben sich herumgesprochen.
Von Anfang an wird deutlich, daß er ihre Lähmung nicht auf organische Ursachen zurückführt, nur wie sagt man einer Frau, daß sie sich selbst lähmt, einer Frau, die psychologische Ursachen für töricht und falsch hält. Daß sie aber ein Psychofall ist, merkt man schon an ihrem herrischen Umgang mit der Tochter. Fiona Shaw spielt diese ältliche verbitterte Frau mit genau diesen herrischen Zügen, die aber gemildert sind durch eine Art Selbstironie, zu der sie immer wieder fähig ist, weshalb einem die Mutter nicht total unsympathisch ist, obwohl sie ihre Tochter tyrannisiert. Ist doch klar, wer im Rollstuhl sitzt, braucht ständig Hilfe und Emma hilft auch, wo sie kann, aber wie unwohl sie sich zunehmend stärker in ihrer Rolle fühlt, spürt man. Dabei ist sie bildhübsch, sexy und ein Augapfel für jeden Mann, was deren Blicke auch zeigen. Wenn man diese kleine Familie von außen betrachtet, ist alles in Ordnung und sie haben die finanziellen Mittel, sich in Spanien Rat zu suchen. Daß die Mutter dafür ihr Haus verpfändet hat, erfährt man nebenbei, aber sie hat immerhin ein Haus.
Eines Tages, als Emma am Strand ist, kommt auf einem Pferd eine Frau dahergeritten, die für sie der Inbegriff von Freiheit und Verwegenheit ist. Ingrid (Vicki Krieps) erkennt sofort die Bedürftigkeit von Sofie und wendet sich ihr zu. Ingrid hat gleich mehrere Männer an der Hand, die auch die Mutter täglich in die Klinik fahren, aber Ingrid ist auch eine, die ihren Gefühlen freien Lauf läßt und die drängen sie zu Emma. Erst viel später wird deutlich, daß sie genauso eine Versehrte ist wie die beiden anderen, nur aus ganz anderen Gründen.
Das ist raffiniert eingefädelt, daß wir Zuschauer in den Frauen erst einmal durch Äußeres etwas anderes sehen, als innen der Fall ist. Nicht bei der Mutter, der Fall liegt klar, daß die ein Problem mit sich herumschlägt, was ihr Gehen verhindert. Und Emma, die die ganzen Jahre brav die Steigbügelhalterin ihrer Mutter war, beginnt aufzubegehren. Zuerst will sie mehr von ihrem Vater wissen, der die Mutter verlassen hatte und zurück nach Griechenland ging, wo er neu verheiratet eine kleine Tochter hat. Emma möchte ihn und ihre Halbschwester sehen und fliegt kurzentschlossenen hin. Eigentlich ein Fiasko, denn sie erlebt, daß der Vater nicht weniger traurig und kaputt ist, als die Mutter. Was ist da bloß los?
Es kommt noch schlimmer. Immer wieder ist Emma eifersüchtig, wenn Ingrid sich mit einem der Männer abgibt, sie liebt, immer wieder ist sie glücklich, wenn mit ihnen beiden etwas läuft. Schon zuvor hatte ihr Ingrid anvertraut, sie habe einen Mord begangen. Nach langen Gesprächen stellt sich heraus, daß sie als Sechsjährige ihre kleine Schwester auf der Schaukel immer stärker schubste, damit die Schaukel hoch in de Luft fliegt, das Mädchen aber herunter und auf den Kopf fiel und seitdem als schwerbehindert in Heimen verwahrt wird.
Gleichzeit sieht man bei all dem seelischen Elend den schöne Sommer in Almería und spürt daß sich hier etwas zusammenbraut, was dann tatsächlich wie eine Explosion wirkt. Die Mutter erzählt Emma endlich das Familiengeheimnis. Sie hatte immer von einer Schwester gesprochen, die gestorben sei, die sie nie kennengelernt hatte. Sie war ihren Eltern und zwei Brüdern, die inzwischen alle gestorben sind, fremd, weshalb sie damals nach London floh. Sie entdeckt Emma, daß sie selbst diese gestorbene Schwester sei, denn ihr Vater hatte sie mißbraucht und so wurde Emma geboren, die Halbschwester der Mutter, Kind des Vaters, offizielle Enkelin und Enkelin der Großmutter. Kein Wunder, daß ihr Körper ihr nicht gehört und macht, was er will, sich nämlich durch Lähmung dem Leben widersetzt.
Der Film folgt einem Buch, das in England sehr beachtet und also gelesen ist und die Regisseurin, die bisher nur Drehbücher schrieb, leistet hier ihre erste Filmregie, ein Debüt also. Bei der Pressekonferenz zum Film haben sich die Mitwirkenden gegenseitig in Lobsprüche überboten . In ziemlich kurzer Zeit sind die Dreharbeiten abgeschlossen worden, von denen alle begeistert waren.
Und nun zum abrupten Schluß, der einen erst einmal kalt erwischt, der es aber in sich hat, da sich jeder seinen eigenen Schluß ausdenken muß. Die genervte Emma, die einfach nicht mehr erträgt, daß ihre Mutter sschon wieder fliehen will und in London erneut einen Facharzt (einen orthopädischen, keinen Psychiater) aufsuchen will und erkennt, daß Dr. Gómez mit seiner Diagnose und Therapie recht hat, hatte am Strand völlig verblüfft ihre Mutter auf den Holzdielen eines Stegs ins Wasser gehen gesehen. Sie setzt diese ins Auto und hält unterwegs auf der Straße einfach an, holt den Rollstuhl heraus und fährt ihre Mutter in die Mitte der Straße und läßt sie dort stehen. Wir sehen von weitem einen Laster mit großer Geschwindigkeit anrollen. Da wird die Leinwand schwarz. Der Film ist aus. Was tut die Mutter? Läßt sie sich überfahren oder springt sie auf und kann gehen. Natürlich plädiert jemand wie ich für Letzteres. Und es kann mir auch keiner das Gegenteil beweisen.
Genauso werden Pessimisten und Weltennörgler sicher sein, daß sie überfahren wird. Das ist wirklich ein Ding, dieser Film!
Foto:
©Berlinale
Info:
Regie. Rebecca Lenkiewicz
Buch Rebecca Lenkiewicz
Darsteller
Emma Mackey(Sofia)
Fiona Shaw(Rose)
Vicky Krieps(Ingrid)
Vincent Perez(Gomez)
Patsy Ferran(Krankenschwester Julieta)
Yann Gael(Matty)
Vangelis Mourikis(Christos)