1971 Warnung vor einer heiligen Nutte Werkfoto 960x540 1Ausstellung des DFF - Deutsches Filminstitut & Filmmuseum, 2. April 2025 bis 1. Februar 2026, Teil 6

Redaktion

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - In den 1950er bis 1970er Jahren entwickelte sich die Technik hinter den Kulissen rasant weiter. Es entstanden noch bessere Dollies und Kräne, die auch bei Außenaufnahmen eingesetzt werden konnten, man nutzte Stabilisatoren, um die immer leichter werdenden Handkameras ruhiger führen zu können, montierte Kameras auf Autodächer, es gab die erste Helikopterkamera.

Nicht nur in Hollywood, auch im west- und osteuropäischen Kino kam es dadurch zu buchstäblich neuen Höhenflügen in der Produktion von Plansequenzen. So wie die Kamera in der Luft schwebend ein Gefecht im Kriegsfilm THE LONGEST DAY (US 1962, R: Ken Annakin, Andrew Marton, Gerd Oswald) einfängt, so düst sie in erstaunlichem Tempo über das napoleonische Schlachtfeld in WOINA I MIR (Krieg und Frieden, SU 1966, R: Sergei Bondartschuk). Und während Jean-Luc Godards Kameramann Raoul Coutard mit der Caméflex (einer 35mmHandkamera von Éclair) Jean-Paul Belmondo und Jean Seberg in À BOUT DE SOUFFLE (FR 1960) minutenlang auf der Champs Élysées folgt, so fährt Agnès Vardas Kamera den Hauptfiguren in CLÉODE 5 À 7 (FR/IT 1962) am Ende auf Schienen hinterher, die sogar (versehentlich) im Bild zu sehen sind.

Die Kamera in Michail Kalatosows SOY CUBA (CU/SU 1964) scheint keinen physikalischen Gesetzen zu gehorchen, wenn sie in einer der virtuosesten Plansequenzen überhaupt mehrere Stockwerke überwindet und sogar in einen Swimmingpool abtaucht. „Wie haben die das gemacht?“, fragt man sich auch bei der berühmten Schlusssequenz in PROFESSIONE: REPORTER (IT/FR/ES 1975, R: Michelangelo Antonioni), in der die Kamera durch ein Gitterfenster gleitet und über ein kleines Wüstendorf schwenkt, bis sie am Ende wieder im Zimmer bei der Leiche der von Jack Nicholson dargestellten Figur ankommt.

Die Steadicam

Ein absoluter Meilenstein war die Erfindung der Steadicam durch Garrett Brown, 1974/75: ein komplexes Halterungssystem, das um den Körper geschnallt wird und mit dem Kameraleute erstmals dynamische, aber wackelfreie Aufnahmen in Bewegung machen konnten. Die Steadicam kombinierte die Vorzüge einer makellos ruhigen Dolly-Fahrt mit der Flexibilität und Mobilität einer Handkamera-Aufnahme. Geradezu ikonisch setzte Brown seine neue Technik für die Dreiradfahrten des kleinen Danny in Stanley Kubricks THE SHINING (GB/US 1980) durch die Flure des Overlook-Hotels ein. Die Szenen nahm Brown – der in einem Rollstuhl hinter Danny her geschoben wurde – aus der Untersicht auf; ein ästhetisches Mittel, das sich schon bald zum Klischee in Horrorfilmen entwickelte – der subjektive Blick des Bösen. https://www.youtube.com/watch?v=2W7uKverqX8 

Dank Steadicam wurden die Plansequenzen von den 1980er Jahren an immer agiler und rasanter. Eine der berühmtesten ist sicherlich der „Copacabana-Shot“ in GOODFELLAS (US 1990), den Martin Scorsese und sein Kameramann Michael Ballhaus ohne Steadicam (die Larry McConkey führte) so nicht hätten realisieren können, und der unter Cineast:innen noch heute Furore macht. Ray Liotta als Henry Hill führt sein Date dabei durch den Hintereingang des Copacabana Clubs, um eine endlose Schlange von Wartenden am Haupteingang zu umgehen. Die Kamera klebt in einem sogenannten „Tracking Shot“ an den Rücken der beiden, als diese sich drei Minuten lang durch Kellerflure und die von Köchen wimmelnde Küche ihren Weg bahnen, um am Ende direkt vor der Bühne platziert zu werden, wo ein in der Hand eines Kellners scheinbar heranschwebender Tisch binnen Sekunden bereitgestellt wird. https://www.youtube.com/watch?v=mcXBP-1fduY

Ballhaus hatte zuvor bereits mit Rainer Werner Fassbinder kinematographisch wegweisende Kamerabewegungen verwirklicht: die berühmte 360°-Fahrt um Karl-Heinz Böhm und Margit Carstensen in MARTHA (BRD 1974) war der erste von vielen „Ballhaus-Kreiseln“; ein visuelles Markenzeichen, das er auch in seinen Hollywood-Arbeiten einsetzte, zum Beispiel THE COLOR OF MONEY (US 1986, R: Martin Scorsese) oder THE FABULOUS BAKER BOYS (US 1989, R: Steve Kloves).

Eine weitere herausragende Plansequenz der 1990er Jahre ist die beinahe neunminütige Anfangsszene aus Robert Altmans THE PLAYER (US 1992), die das Gewusel auf einem Filmstudiogelände zeigt und alle wichtigen Figuren des Films einführt. Zwei unterhalten sich sogar über die TOUCH OF EVIL-Szene von Orson Welles – ein ironischer Meta-Kommentar

Foto:
Michael Ballhaus, Rainer Werner Fassbinder (v.l.n.r.) (Dreharbeiten)
©Peter Gauhe, Quelle: DFF – Sammlungen und Nachlässe