Bildschirmfoto 2025 04 10 um 21.11.48Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. April 2025, Teil 7

Paolo Sorrentino

Rom (Weltexpresso) – »Für mich ist „Parthenope“ in erster Linie ein Film über das Heilige.« (Paolo Sorrentino) Als mir in einem Interview einmal eine dieser schwierigen Fragen gestellt wurde - in etwa lautete sie „Was ist für Sie das Heilige?“ - antwortete ich instinktiv: „Das Heilige ist das, was wir von unserer eigenen Lebensgeschichte nie vergessen werden.“ Aus dieser Annahme ist dieser Film geboren. Für mich ist „Parthenope“ in erster Linie ein Film über das Heilige.

Über all die Dinge, die eine Frau in dreiundsiebzig Lebensjahren nicht vergessen konnte: die Bucht von Neapel, ihre Eltern, ihre ersten Lieben - die eine rein und leuchtend, die andere unaussprechlich, vulgär. Der sorglose und damit perfekte Sommer auf Capri, durchdrungen von mit seinen von Salzluft getränkten Sonnenaufgängen, stillen Momenten des Morgens und lauen Nächten. Die flüchtigen, schicksalhaften Begegnungen, die Entdeckung der Verführung und der Schwindel der Freiheit; das Gefühl, so lebendig zu sein, dass der Übermut der Existenz die junge Frau seufzen lässt; die intensive Suche nach ihrem wahren Ich; verlorene oder kaum gekostete Lieben; die Umbrüche, die sie ins Erwachsenenalter schleudern; das unaufhaltsame Vergehen der Zeit; der einzige Liebhaber, der sie nie verlässt. In all dem flimmert Neapel mit seiner erdrückenden Vitalität, mit Wundern an jeder Ecke. Alle scheinen immer bereit, als ob sie unaufhörlich hinter einem unsichtbaren Vorhang darauf warten, die Bühne zu betreten und Chaos, Überraschung, Hinterhältigkeit, Promiskuität und alles Verwandte darzubieten.

Neapel ist frei, Neapel ist gefährlich, Neapel urteilt nie. Die Stadt ist wie Parthenope.

Ihre Freiheit ist ein ewiger Wert, etwas, das sie niemals aufgeben wird. Selbst wenn es letztlich bedeutet, das Alleinsein zu akzeptieren. Denn Einsamkeit und Freiheit gehen nur allzu oft Hand in Hand. Neapel ist der ideale Ort, um uns vorzumachen, dass wir ein wunderbares, unvorhersehbares Leben führen. Der Ort, an dem unsere Lebensgeschichte wie die Unterseite eines Teppichs erscheint: Wir können das Design erahnen, obwohl wir es nicht ganz sehen können. Unser Leben ist nie geordnet, nie logisch. Es ist leicht, sich in den Weiten des Lebens zu verirren. Wir versuchen, unser Leben zu verstehen. Wir versuchen, seine Gesetzmäßigkeit zu begreifen, ihm einen Sinn zu geben. Aber das Leben sieht uns nicht. Das Leben ist immer woanders. Das ist anstrengend, und es macht uns unsicher. Mysteriös.

Auch Parthenope ist, wie wir alle, unsicher und geheimnisvoll. „Liebst du zu viel oder zu wenig?“, fragt sie ein als Heiliger verkleideter Dämon in einer Szene. Er fragt uns alle. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Wir auch nicht. Denn alle Fragen wurden bereits gestellt, und alle Antworten haben sich als zweideutig, ausweichend und widersprüchlich erwiesen. Es ist dieser Mangel an Selbsterkenntnis, der uns in den Augen anderer zu einem Rätsel macht. Auch Parthenope ist ein Rätsel.

Erst lassen wir uns gehen, dann übernehmen wir Verantwortung, dann geben wir sie wieder ab. Auf diese Weise nimmt die Zeit ihren Lauf. Das ist das ehrgeizige Thema dieses Films: die Entfaltung des Lebens in all seiner Euphorie und Enttäuschung, das Aufblühen und Vergehen der Liebe, das Ende der Melancholie und der Beginn der Sehnsucht. Kurzum, das gesamte Repertoire des Lebens, oder das, was sich davon in einem Film vermitteln lässt. Und so wird sogar das Leben in Neapel, so erstaunlich und unberechenbar es auch sein mag, mit der Zeit langweilig. Die Jugend mit ihren aufgeladenen Blicken und emotionalen Ablösungen hat Abschied genommen. Der Golf von Neapel ist nur noch Wasser. Sein Wunder ist verblasst. Die große Täuschung trügt nicht mehr. Parthenope findet sich allein wieder. Man wird zu dem, was man ist, wie Nietzsche sagt. Also verlässt Parthenope Neapel, um an einen anonymeren Ort zu gehen. Sie ist jetzt erwachsen und hat einen Beruf. Vierzig Jahre lang geht sie früh zu Bett, wie Proust und De Niro sagten. Sie liebt zu wenig. Wenn sie mit dreiundsiebzig in Rente geht, muss sie sich wieder ändern. Sie muss lernen, ihre Vergangenheit neu zu sehen, das Heilige in ihr zu erkennen. Zu sehr zu lieben. Oder sich zumindest vorstellen, dies zu tun. Also kehrt sie nach Neapel zurück, dieser unnahbaren, wilden Stadt, die sich nie verändert. Neapel, das noch immer zu täuschen weiß und uns das einzige Gefühl bietet, das uns bis zum Ende am Leben erhält: die Fähigkeit zu staunen. Am Schluss seufzt Parthenope. So wie sie es als junges Mädchen getan hat. 

Foto:
©Verleih

Info:
Italien | Frankreich 2024
Originaltitel: PARTHENOPE
Laufzeit: 138 Minuten

BESETZUNG
Parthenope             Celeste Dalla Porta
Parthenope (älter)   Stefania Sandrelli
John Cheever         Gary Oldman
Devoto Marotta      Silvio Orlando
Greta Cool      Luisa Ranieri
Bischof          Peppe Lanzetta
Flora Malva     Isabella Ferrari
Maggie.          Silvia Degrandi
Sasa’.            Lorenzo Gleijeses
Raimondo      Daniele Rienzo
Sandrino        Dario Aito

STAB
Regie Paolo Sorrentino
Drehbuch Paolo Sorrentino

Abdruck aus dem Presseheft