bl1Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. Mai 2025, Teil 8

Christel Schmidt

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Vor drei Wochen saß ich entspannt in einem Zug nach Italien. Vor Innsbruck eine Durchsage: Fliegerbombenfund auf der Strecke. Vollsperrung. Alle aussteigen. Es sollte mit Schienenersatzverkehr von dem unplanmäßigen Halt hinter Kufstein weitergehen. Irgendwie sollte das gesperrte Gebiet umfahren werden, und - so man dann in Innsbruck ankäme - ginge es wieder mit einem Zug weiter. Natürlich hat das alles nicht so geklappt. Auch die österreichische Bahn kann Chaos, aber das ist ja jetzt nicht das Thema. Es ist aber ein Zeichen, wie aktuell der Film von Kerstin Polte ist, der episodisch eine sehr spannende, komplexe, bewegende Geschichte von einer solchen Fliegerbombe erzählt, wie sie immer wieder in Städten (oder neben Bahnstrecken) gefunden werden. Abgeworfen im 2. Weltkrieg, nicht detoniert, aber immer noch gefährlich, weil die Zündung jederzeit ausgelöst werden kann. Blindgänger eben.

 

Kerstin Polte ist mit ihrem Film ein richtiges Kunststück gelungen, und ich habe mich gefragt, warum dieses Sujet, das sich ja auch psychologisch lesen lässt, von wegen tief vergrabene Konflikte, die jederzeit hochexplosiv werden können, nicht schon längst filmisch thematisiert wurde.

 

Achtzig Jahre nach Kriegsende liegen aktuell immer noch geschätzt zwischen 100.000 und 300.000 Tonnen Blindgänger im Boden und im Meer. Während in anderen Teilen der Welt täglich neue Bomben abgeworfen werden.

Mit diesem ungeheuren Fakt eröffnet Kerstin Polte ihren Film, und katapultiert uns gleich mitten rein in das Hamburger Bombenentschärfungskommando, das eine Fliegerbombe im Schanzenviertel entschärfen muss. Und mitten rein in das Leben und die Geschichte einiger betroffenen Anwohner. Die bestehende Gefahr, die Nervosität im Team, die Ausnahmesituation der Evakuierung geben ein hohes Tempo vor. Da hätte es den herausziehenden Orkan eigentlich nicht gebraucht, aber ein aufkommender Sturm dramatisiert natürlich noch die Extremsituation. Zusammen mit der sehr gekonnt eingesetzten Musik baut sich eine Spannung auf, die eine völlig andere Qualität und Tiefe hat, als sonst üblich in diesem Genre.

 

Das hat sicher damit zu tun, dass die Regisseurin 7 Jahre an dem Film gearbeitet hat. Man spürt die Liebe, die Sorgfalt, die Professionalität in jeder Einstellung. Die Ausstatterin hat sich geradezu in die Wohnungen im Schanzenviertel eingegraben, und für jede Figur eine eigene Welt eingerichtet.

Da ist die alte Dame, die noch den 2. Weltkrieg erlebt hat, und ihre Wohnung seit Jahren nicht mehr verlassen hat. Wir erfahren später, dass sie die Mutter der fragilen Hauptfigur Lane ist.

 

Anne Ratte Polle als Lane ist eine Wucht. Das ist sie aber eigentlich immer! Diese Schauspielerin ist durchlässig, kraftvoll, ungekünstelt und uneitel und wirft sich geradezu bedingungslos in ihre Figuren.

Überhaupt hat Kerstin Polte bis in die kleinste Nebenfigur einen überragenden Cast zusammengestellt. Und sie weiß die Schauspieler grandios zu inszenieren. Claudia Michelsen, die sich leider in den letzten Jahren immer etwas zu sehr auf ihre eingeübte Wirkung verlassen hat, ist in der Rolle einer frustrierten Lehrerin wunderbar unangestrengt und glaubhaft. Sie ist mit Otto, dem Chef des Entschärfungskommandos verheiratet. Der durch eine Krebsdiagnose gerade so verstört ist, dass er einfach nicht zu seinem brenzligen Job erscheint. Stattdessen trägt er ein Kaninchen auf dem Arm herum, und geht mit einer Zufallsbekanntschaft in einem Drag Club, wo er losgelöst und selbstvergessen tanzt. Bernhard Schütz als Otto. Großartig. Ein Mann, der der sich in seinem lebensgefährlichen Job jahrzehntelang immer nur wenige Zentimeter vom Tod entfernt aufgehalten hat, wird durch den Verdacht auf eine Krebserkrankung völlig aus der Bahn geworfen. Es gibt wohl kein Training für den Umgang mit Todesangst.

Es sind die kleinen Zeichen, hinter denen sich große Zusammenhänge oder auch Abgründe auftun.

 

Kerstin Polte versteht es meisterhaft, komplizierte Realität mit all ihren Facetten sozusagen mit einem Achselzucken zu inszenieren. Ist jetzt halt so - weiter in der Geschichte. Die Regisseurin verhandelt Diversität bis in die kleinste Nebenfigur ganz selbstverständlich. So hat Kübra Sekin als kleinwüchsige Ärztin im Rollstuhl einen 60 Sekunden Auftritt. Sie übermittelt Otto den Krebsverdacht. Das wird ganz beiläufig erzählt. Und wir wissen ja, dass Beiläufigkeit und Unangestrengtheit präzise Arbeit erfordern und die hohe Kunst der Gestaltung sind.

Dass die Regisseurin, die auch das Drehbuch geschrieben hat, fast sieben Jahre lang an ‚Blindgänger‘ gearbeitet hat, spürt man an der stabilen Verbindung der einzelnen Episoden.

 

So trifft Lanes Mutter Margrit (von der wunderbaren Barbara Nüsse verkörpert), die als Kind die Bombennächte des 2. Weltkriegs durchlitten hat, auf den jungen syrischen Geflüchteten Ivar, der durch das aktuelle Kriegsgeschehen traumatisiert ist.

 

Die überforderte Hauptfigur Lane hat nur mit Mühe von einer Psychologin die Freigabe zur weiteren Ausübung ihres Jobs bekommen. Ohnehin instabil muss sie nun ohne ihren versierten Kollegen Otto, aber noch mit der Angst um ihre Mutter belastet, die Bombe allein entschärfen. Dass ausgerechnet die anfangs als Gegenspielerin empfundene Psychologin (Harley Louise Jones) Lane durch diesen ‚Mörderjob’ führen wird, ist auch eine der vielen intelligenten Wendungen.

Überhaupt sind alle Frauenfiguren, ob Kollegin, Chefin, Psychologin, Lehrerin komplex und eigenständig. Blindgänger ist einer der ganz wenigen Filme, die den Bechdel Test quasi überfüllen. Zur Erinnerung - Dieser Test, 1985 etabliert, besteht aus drei einfachen Fragen:

Kommen mindestens zwei namentliche bekannte Frauen in einer Szene vor

Sprechen diese Frauen miteinander

und zwar über etwas anderes als einen Mann.

 

Auf das Gesprächsthema ‚Mann‘ ist Blindgänger fürwahr nicht angewiesen. Der Film verhandelt in 95 spannenden Minuten temporeich und mit trockenem Humor existenzielle Fragen in einer Ausnahmesituation, die schon morgen jede/n von uns betreffen kann.

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Info:Blindgänger (Deutschland 2024)

Regie und Drehbuch : Kerstin Polte

Besetzung: Anne Ratte Polle, Claudia Michelsen, Bernhard Schütz, Karl Markovics, Barbara Nüsse,Haley Louise Jones, Thelma Buabeng uvm.