
Redaktion
Paris (Weltexpresso) – Als ich ein Kind war, brachte mir meine Mutter von einer Ausstellung in Paris ein von Bonnard gemaltes Plakat mit, auf dem Marthe am Tisch des Landhauses „Ma Roulotte“ saß, im Hintergrund eine üppige, von Licht und Farben erfüllte Landschaft. Ich hatte es an die Wand meines Schlafzimmers gepinnt, um es beim Einschlafen zu betrachten. Ich war zu jung, um es zu verstehen, aber etwas an diesem Bild faszinierte mich, seine Sinnlichkeit und die Besonderheit, die von ihm ausging. Als wäre es ein sich öffnendes Fenster zu einer anderen Welt.
Später fand ich heraus, dass „Ma Roulotte“ das Landhaus am Ufer der Seine in der Normandie war, in dem das Paar viele Jahre lang in einer Art Symbiose, aber auch in Abgeschiedenheit lebte. Dieser Ort, an dem Bonnard seine Selbstverwirklichung als Künstler erreichte. Im Laufe der Jahre vergaß ich natürlich dieses Plakat und die Faszination, die es auf mich ausübte, aber die Erinnerung daran kam zurück und verfolgte mich lange Zeit danach. Der Zufall wollte es, dass ich mich hier in Vexin ganz in der Nähe des Landhauses „Ma Roulotte“ niederließ, einem Ort, an dem ich noch heute lebe inmitten der durch Bonnards Blick vergrößerten Landschaften. Eines Tages nahm Pierrette Vernon, die Großnichte von Marthe, Kontakt zu mir auf. Sie wollte, dass ich einen Film über ihre Großtante drehe, da sie der Meinung war, dass ihre grundlegende Rolle im Werk ihres Mannes nicht ausreichend gewürdigt wurde. Man könnte sagen, Marthe wurde darin zum Wahrzeichen und Gegenstand der Verehrung. Sie ist in mehr als einem Drittel seines Werkes präsent. In der öffentlichen Meinung blieb sie eine mit Problemen belastete und manipulative Frau, während sie in Marthe eine Frau sah, die sich für sein Werk aufopferte. Bonnard umweht ein Geheimnis. Ein Geheimnis, das sich sein ganzes Leben lang in der obsessiven Darstellung des Körpers von Marthe ausdrückte, seiner Lebensgefährtin und Muse. Von Anfang an ist Marthe allgegenwärtig, ergeben, rätselhaft und schamlos. Und dann ganz langsam als sie langsam krank wird, zieht sie sich zurück, oft in ihre Badewanne, bleibt irgendwie ewig jung und unerreichbar.
Bonnards Werk ist völlig an ihre Präsenz gebunden, es wäre nicht dasselbe ohne sie. Angesichts dieser unauflösbaren Verbindung verspürte ich sofort das Bedürfnis nach einem tieferen Verständnis. Ich habe dies als ein Zeichen gesehen. Seit meiner 7 Kindheit war die an die Wand meines Zimmers gepinnte Marthe auch Teil meines Lebens. Zu Beginn der Drehbucharbeit wurde mir klar, dass es sich um eine herzzerreißende Liebesgeschichte handelt, die sich hinter der Legende ihrer innigen und von der Welt zurückgezogenen Beziehung verbarg. Bei Pierre und Marthe war nichts einfach. Weder die Zuneigung und der Egoismus von Pierre, weder die Mythomanie, der krankhafte Hang zum Lügen von Marthe, noch die entscheidende Rolle, die sie an seiner Seite zu spielen schien, und nicht einmal Pierres Bilder, wo hinter einer scheinbaren Darstellung des Glücks jedes Detail den Betrachter noch mehr in die Irre führt. Die beiden waren durch einen faustischen Pakt verbunden, eine seltsame Alchemie, bei der sich jeder fragte, wer den anderen „vampirisiert“ hat. Unter der Pracht der Landschaften kann man die zugrunde liegende Tragödie erahnen. Bei seinen Verwandten galt Bonnard bis zum Schluss als Marthes Gefangener, die eine Leere um ihn herum schuf, die ihn bewusst von der Welt abschnitt. Aber viele behaupteten nach dem Tod des Künstlers das Gegenteil: dass Marthe in Wirklichkeit Pierres williges „Opfer“, seine Gefangene war, die an ihrer Beziehung zerbrach... Auf jeden Fall schien es mir völlig klar, dass es ein Fehler wäre, Marthe auf die Rolle einer Muse zu reduzieren. Es wäre irreführend und ebenso herabsetzend, sie auf ein machtloses Opfer zu reduzieren, das von einem genialen Raubtier verschlungen wird und sich in die lange Liste von Gefährtinnen berühmter Künstler einfügt, die durch den männlichen Blick in einer immer noch grundlegend patriarchalischen Gesellschaft zum Objekt degradiert wurden. Marthe verfügte über eine starke Persönlichkeit, sie verbarg vor Pierre wichtige Teile ihres früheren Lebens und schuf einen eigenen Namen und eine eigene Person. Sie lebte in einer Lüge, flüchtete aber gleichzeitig vor dem falschen Schein: eine verstörende Kombination aus Aufrichtigkeit und Mythomanie. Indem sie sich aus dem gesellschaftlichen Spiel zurückzog, nahm sie Pierre mit und dadurch, dass er ihre Liebe zur Einsamkeit und Natur teilte, entdeckte er sich selbst. Marthe hätte Malerin werden können. An Pierres Seite wuchs ihr Wunsch zu malen. Und eines Tages begann sie unter einer dritten Identität zu malen, als Marthe Solange. Aber es war zu 8 spät. Nach ihrer ersten Ausstellung hörte sie auf und fiel sukzessive in eine Depression. Von ihr sind nur etwa fünfzig Gemälde erhalten. Ein Werk, das eines Absolventen der Kunstakademie angemessen wäre. In Armut geboren, fehlte ihr die Zeit, die Malerin in sich zu offenbaren.
Trotz ihrer Depression hat Pierre sie nie aufgegeben. Bis zum Schluss zeigte er seine absolute Hingabe an sie. Ursprünglich stark und hart wie ein Diamant, wurde sie mit der Zeit zerbrechlich wie Glas. Pierre nahm zu Beginn ihrer Beziehung voll an den künstlerischen Tendenzen seiner Zeit teil, eine Zeit voller Freiheit und Experimente in der Liebe. Aber als er sich nach und nach mit ihr von der Welt absonderte, um sich ganz seiner Arbeit zu widmen, schien er von einem kreativen Fieber geplagt zu sein. In diesem nicht-anekdotischem Raum habe ich den Film angesiedelt, weit entfernt von einem gewöhnlichen Biopic oder einer historischen Rekonstruktion, sondern in dieser geheimen Veränderung innerhalb einer Paarbeziehung.
FILMOGRAFIE (Auswahl)
2023 DIE BONNARDS – Malen und lieben (Bonnard, Pierre et Marthe)
2020 Die perfekte Ehefrau (La bonne épouse)
2017 Ein Kuss von Beatrice (Sage femme)
2013 Violette
2011 Where the Night goes? (Où va la nuit?)
2008 Séraphine 2003 Juliette und ihr Bauch (Le Ventre de Juliette)
1997 Tortilla y cinema
Foto:
©Verleih
Info:
Ein Film von Martin Provost
KINOSTART: 5. Juni 2025
Mit Cécile de France, Vincent Macaigne, Stacy Martin u. a.
Frankreich, Belgien 2023 / 123 Minuten
Abdruck aus dem Presseheft