splSerie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 30. Oktober 2025, Teil 14

Nataliia Serebriakova


Berlin (Weltexpresso) - Splitter aus Licht von Mila Teshaieva und Marcus Lenz ist ein eindringlicher und intimer Dokumentarfilm, der die langen Schatten des Krieges auf das Leben gewöhnlicher Menschen in Butscha, Ukraine, einfängt. Anstatt das Schlachtfeld in den Fokus zu stellen, richtet der Film seinen Blick auf diejenigen, die zurückbleiben – Überlebende, die im fragilen Alltag nach der Besatzung zurechtkommen müssen, Menschen, die in einem bürokratischen Niemandsland nach Gerechtigkeit suchen, und Kinder, die im Theater eine leise Form der Heilung finden. Durch zutiefst persönliche Geschichten zeigt Splitter aus Licht, wie Trauma das tägliche Leben verändert, wie Hoffnung selbst in den Ruinen aufblitzt und wie Erinnerung zugleich Last und Notwendigkeit wird.


Es ist kein Film über Heldentum im herkömmlichen Sinn – es ist ein Film über Durchhaltevermögen, Komplexität und die stille Kraft, einfach weiterzumachen. Filmkritikerin Nataliia Serebriakova (Dmovies.org, Liga.net) sprach mit der Regisseurin.


Die Besatzung von Butscha ist ein schmerzhaftes Thema. Warum haben Sie es für den Film gewählt – also das Leben nach der Besatzung?

Butscha ist für mich nicht nur ein Thema. Ich bin in Kyjiw geboren und aufgewachsen, und Butscha kenne ich seit meiner Kindheit als eine gewöhnliche, ruhige Stadt vor den Toren Kyjiws. Als ich am Tag der Befreiung in die Stadt kam und mit dem Ausmaß der Tragödie, mit dem Ausmaß der von den Russen begangenen Kriegsverbrechen konfrontiert wurde, kam ich nicht als Filmemacherin, sondern als Ukrainerin, deren Land und deren Menschen in Asche verwandelt worden waren.

Doch dieser Moment der Befreiung… er war wie eine Stunde Null. Mit all dem Schmerz, dem Schock und der Unmöglichkeit, das Geschehene zu begreifen, habe ich eine unglaubliche Solidarität und Kraft zum Wiederaufbau erlebt – das Leben aus der Asche zurückzuholen. Diese ersten Monate des Krieges waren voller unermesslichen Schmerzes, aber auch voller kollektiver Entschlossenheit, zu beweisen, dass das Leben den Tod besiegen kann. Das berührte mich tief, und darin liegt der Ursprung unseres Films.



Was war das Besondere an dieser Geschichte für Sie?

Der Prozess der Transformation. Wie sich persönliche Lebenssituationen im Laufe der Zeit verändert haben. In den drei Jahren, in denen wir in Butscha an diesem Film gearbeitet haben, konnten wir gleichzeitig eine Gesellschaft NACH der Besatzung und die GEGENWART des Lebens im Krieg beobachten. Im engen Kontakt mit unseren Protagonist:innen, mit denen wir diese Momente persönlicher und kollektiver Veränderung durchlebt haben, sahen wir die komplexen Phasen der Nachwirkungen des Krieges – sowohl für Einzelne als auch für die Gesellschaft: von Solidarität zu Konflikten, vom Unterdrücken des Schmerzes zum Herausbrechen der Wut, die Etappen des Traumas und die Folgen des Krieges, die – so glaube ich – universell sind.

Ich glaube, dass wir durch diesen Film etwas über unsere eigenen Geschichten erfahren können. Und diese Geschichte ist eine, die wir in Europa teilen. Während der Arbeit am Film habe ich ein tieferes Verständnis dafür gewonnen, was meine Familie nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg durchlebt hat. Ich glaube, dass wir diese Erfahrungen in uns tragen. 

Als Künstlerin arbeite ich überwiegend mit Geschichte und Erinnerung – mit der Frage, wie Nationen ihre Tragödien ertragen, wie diese Tragödien Gesellschaften formen und wie
kollektives Gedächtnis entsteht. Das ist für mich nicht nur ein Thema – es ist der Kern meines künstlerischen Lebens, etwas, mit dem ich mich nicht nur beschäftige, sondern dem ich mich als Forscherin und Mensch verpflichtet fühle. Als die Invasion in vollem Umfang begann, packte ich noch am selben Tag meine Sachen in Berlin und fuhr nach Kyjiw. Ich musste diesen Moment mit meinem Land durchleben, es war mir wichtig, von Anfang an in Kyjiw zu sein, um alles persönlich zu sehen und zu fühlen.



Wurde der Film also zu Ihrer Antwort?

Der Film wurde zu einem Werkzeug, um Fragen zu stellen. Was kommt nach dem Krieg? Wie gehen wir mit all dem Trauma und den Konflikten um? Wie werden wir Ukrainer:innen – jede und jeder mit unterschiedlichen Erfahrungen dieses Krieges – einen gemeinsamen Boden für den Wiederaufbau finden? Und ist ein Wiederaufbau überhaupt möglich? Aber auch der Akt des Filmens, das Engagement, den Menschen eine Stimme zu geben, war mein Werkzeug, um psychisch durchzuhalten.



Sie haben Ihren ersten Film, „When Spring Came to Bucha“ , über die unmittelbare Zeit nach der russischen Besatzung gemacht. Warum haben Sie weitergemacht?

Der erste Film war eine ehrliche, sensible, aber sehr unmittelbare Reaktion auf den Krieg, die Kriegsverbrechen in Butscha und die Kraft der Menschen, das Leben wiederherzustellen.
Der Krieg hat die Realität für alle verändert. Und für unsere Protagonist:innen im direktesten Sinn. Jede und jeder von ihnen erlebte einen Wendepunkt, stand vor Herausforderungen, die niemand hätte voraussehen können. Sie sind diese Lichter – zerbrochen in Stücke, aber sie „leuchten“ immer noch: Sie leben, sie kämpfen für ihre Werte.

Alle haben einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Befreiung des Bezirks Butscha und die Entdeckung der russischen Kriegsverbrechen. Alle haben ein gemeinsames Ziel: das Leben wieder zur Normalität zurückzuführen. Und schließlich müssen alle den andauernden Krieg, das Trauma, die Spaltung der Gesellschaft und die Suche nach Gerechtigkeit erleben. Wir können ihre Erfahrungen auf sehr persönliche Weise miterleben.

Sie zeigen uns das, was in den Erzählungen über den Krieg oft weniger wichtig erscheint – oder worüber wir nicht sprechen wollen. Doch gerade diese Geschichten sind es, mit denen wir uns persönlich verbinden können. Es sind Geschichten über unmögliche Herausforderungen, darüber, wie der Krieg gewöhnliche Leben in Stücke reißt.



Welche Themen standen für Sie im Mittelpunkt von Splitter aus Licht?
 
Für mich handelt dieser Film von den langanhaltenden und oft unausgesprochenen Folgen, die der Krieg für Menschen und Gesellschaften mit sich bringt. Von der Unmöglichkeit, im Krieg Gerechtigkeit zu finden. Von der Unfähigkeit eines Systems, diese Herausforderungen zu bewältigen. Und von einer Zukunft, die verschwommen bleibt. Es sind Geschichten von scheinbar „gewöhnlichen“ Menschen, die in Wahrheit außergewöhnlich sind. Sie zeigen all das, was es nicht in die offiziellen Narrative des Krieges schafft. Es geht nicht um Heldentum. Es geht um zerbrochene Leben, die sich nicht wieder zusammensetzen lassen.



Ihr Film hat einen starken Eindruck bei mir hinterlassen – er hat mich zum Nachdenken gebracht, mich sogar ein wenig zum Weinen. Diese menschlichen Geschichten bewegen sehr. Ich möchte Sie fragen: Wenn wir das zeitgenössische ukrainische Dokumentarkino betrachten – Militantropos, Songs of a Slow Burning Earth, Timestamp – dann sind viele dieser Filme eher meditativ, oft wortlos, ohne klar erkennbare Protagonist:innen. Auf der anderen Seite gibt es die raueren, eher reportagehaften Filme. Aber nur wenige, die echten Menschen folgen und persönliche Geschichten erzählen. Könnten Sie uns etwas über Ihren Hintergrund erzählen? Wo haben Sie studiert?

Im Gegensatz zu Marcus habe ich keine klassische Filmschule besucht. Aber als Künstlerin habe ich über 20 Jahre an mehreren Langzeit Fotoprojekten gearbeitet. Dabei war ich immer auf der Suche nach einer spezifischen visuellen Sprache – abhängig vom Thema, das jeweils vorgab, wie ich die Realität vermitteln sollte. Doch eines verband alle meine Projekte: Sie waren immer auf eine Person fokussiert – und durch diese Person auf ein kollektives Phänomen, eine gesellschaftliche Tendenz, erzählt in persönlichen Geschichten.

Diese Projekte dauerten oft Jahre – zwei, drei, vier – und waren vom Aufbau her Filmen ähnlich: mit der Suche nach Figuren, visuellen Entscheidungen und der Entwicklung einer Erzählstruktur. Und wenn ein Projekt in einer Ausstellung oder einem Buch gipfelte, ähnelte es in gewisser Weise bereits dem Schnitt eines Dokumentarfilms.

Eigentlich hatte ich nie geplant, Filme zu machen. Ich liebe die Fotografie – ihre Unabhängigkeit, die Möglichkeit, allein zu arbeiten, die Magie des eingefrorenen Moments. Aber in diesen ersten Tagen in Butscha wurde mir klar: Fotografie konnte für mich nicht funktionieren. Sie konnte nicht ausdrücken, was ich sah, fühlte, was ich erzählen wollte. Die Realität ließ sich nicht mehr auf ein einziges Bild reduzieren. Sie war etwas weitaus Komplexeres und Schmerzlicheres: Klänge, Zeit, die inneren Beweggründe unserer Protagonist:innen…

Und während der Arbeit am unserem ersten Film, When Spring Came to Bucha, merkte ich, dass ich zwar nie Regie studiert hatte, aber intuitiv wusste, wie man einen Film aufbaut – sowohl beim Drehen als auch später im Schnitt. Wie man einen persönlichen, ehrlichen Ansatz entwickelt.



Warum entscheiden Sie sich also, den Fokus auf Protagonist:innen zu legen? Woher kommt Ihre Aufmerksamkeit für persönliche Geschichten?

Jede:r unserer Protagonist:innen ist ein Mikrokosmos der Gesellschaft. Durch sie können wir den Krieg auf einer tief persönlichen Ebene verstehen. Sie verkörpern diese „Splitter aus Licht“ – sie sind aktiv, sie leben, auch wenn ihre Welt in Scherben liegt. Diese persönlichen Geschichten sprechen mich zutiefst an, und deshalb glaube ich, dass ich sie in den Film einbringen konnte.

Mit der Zeit haben sich ihre Geschichten weiterentwickelt, und es entstand eine enge persönliche Verbindung zwischen uns. Unser Film basiert auf tiefem Vertrauen. Das sind nicht nur Figuren – das sind Menschen, mit denen wir echte, gegenseitige Offenheit teilen. Wir begegnen ihnen absolut ehrlich und sehr behutsam, respektieren ihre Emotionen und ihren persönlichen Raum.

Dieses Vertrauen, das – wie ich glaube – auch auf der Leinwand sichtbar ist, ist das Ergebnis unseres Respekts für sie. Und genau das schafft einen ehrlichen Raum, in dem wichtige Dinge durch persönliche Geschichten erzählt werden können.

Für mich bedeutet das sehr viel – nicht nur für die Qualität des Films, sondern auch ganz persönlich.



War die groß angelegte Invasion der eigentliche Ausgangspunkt für Ihre Protagonist:innen? Oder geht es in der Geschichte eher um den Moment der Befreiung von Butscha?

Es ist beides – die Invasion und die Befreiung von Butscha. Die Welt, in der man lebte und die normal erschien, bricht zusammen. Alles, was man bisher tat, alles, was die Grundlage
war, ist entweder zerstört oder hat seinen Sinn verloren. Von diesem Moment an beginnen unsere Protagonist:innen eine neue Zeitrechnung.

Für jede:n von ihnen ist es ein eigener Weg. Manche haben sich zum Beispiel dem Kampf für Gerechtigkeit verschrieben. Das wurde über Jahre zum Sinn ihres Lebens – leider ohne
Ergebnisse. Nehmen wir Olga: Während der Befreiung von Butscha rettete sie Menschen – sie war wirklich eine Heldin. Doch dann musste sie sich drei Jahre lang gegen Anschuldigungen verteidigen, etwas getan zu haben, was sie nie getan hatte – beweisen, dass sie keine Kollaborateurin war. Und das war fast unmöglich, denn man hatte sie „auf
Verdacht“ angeklagt.

Alle unsere Protagonist:innen sind auf eine neue, unbekannte, schmerzhafte Reise gegangen. Und es war mir wichtig, sie auf diesem Weg zu begleiten. Zum Beispiel Maksym und Anya: Im April 2022, als sie heirateten, waren sie euphorisch. Er hatte Irpin verteidigt, und beide glaubten an einen schnellen Sieg. Doch als er 2024 von der Front zurückkam, war er gebrochen. Die Realität hatte sich verändert. Und niemand war darauf vorbereitet.

Dieser Film ist mir besonders wichtig, weil ich durch ihn über diese neue Realität sprechen kann: die Realität des Krieges und den Versuch der Menschen, sich in dieser unsicheren Wirklichkeit zurechtzufinden. Durch sie, durch ihre Schicksale.



Am Ende des Films habe ich gelesen, dass der Fall gegen Olga nicht geschlossen, sondern nur ausgesetzt wurde. Stimmt das?
 
Der Fall ist nicht abgeschlossen. Offiziell ist sie weder schuldig noch verhaftet, aber auch nicht entlastet. Alles befindet sich im Schwebezustand. Niemand antwortet auf ihre
Berufungen, niemand bringt den Fall voran. Er ist eingefroren. Und höchstwahrscheinlich bleibt das so, bis alle Kollaborationsfälle im Gebiet Kyjiw geklärt sind – sie wurden in einer
einzigen Akte zusammengeführt. Und das ist ein Prozess, der Jahre dauern kann. 



Was ist das für eine Kindertheatergruppe, die wir im Film sehen – diejenige, die ein Stück aufführt?

Das Theaterstudio ZAREVO befindet sich in Borodjanka. Insgesamt haben wir an drei zentralen Orten gedreht: Butscha, Irpin und Borodjanka. Und in Borodjanka begegnete ich im Frühjahr 2022 einem Teenager namens Olenka. Damals war sie das einzige Kind in ihrer Klasse, das noch im Klassenzimmer war – alle anderen waren entweder ins Ausland
gegangen oder an einen sichereren Ort gezogen. Also gab die Lehrerin nur für sie Unterricht.
Seitdem haben wir Olenka und ihre Freund:innen begleitet. Auf der Oberfläche ist das+
Theater nur ein Spiel. Aber für mich hatte diese Szene im Film eine viel tiefere Bedeutung.



Was hat Sie an dieser Theateraufführung so bewegt?

Das war ein sehr unmittelbarer Moment, um zu sehen, wie das Leben in der Ukraine in sich überlagernden, aber dennoch unterschiedlichen Realitäten existiert. Nur einen Tag vor der Probe dieses Theaterstücks über den Krieg hatte es eine Beerdigung gegeben – wir sehen sie im Film direkt vor den Fenstern des Theaters. Und am nächsten Tag sollte einer der Nachbarn an die Front gehen. Der Krieg ist buchstäblich direkt hinter der Wand; sie haben ihn auch während der Besatzung erlebt. Und dennoch bleibt er für sie unwirklich. Diese Zersplitterung, diese mehrschichtige Realität – das ist das Wesen des Lebens in der Ukraine heute.

Kinder bleiben Kinder: Sie lachen, sie scherzen, sie spielen Theater, als ginge es sie nichts an. Doch in dem Moment, in dem sie anfangen zu erzählen, was sie erlebt haben – die
Besatzung, die Bombardierung von Borodjanka, die Evakuierung unter Beschuss – wird einem plötzlich die Tiefe ihres Traumas bewusst. Es tut ihnen weh, sich zu erinnern, also
versuchen sie einfach, weiterzumachen, so gut es geht zu leben. Aber dieses Trauma wird sie für immer begleiten. Und die Gesellschaft, in der sie aufwachsen, wird von den Narben dieses Krieges gezeichnet sein.



Es klingt so, als sei es genau das, was Sie in Ihrem Film vermitteln wollten – die Komplexität und Vielschichtigkeit der Kriegserfahrung?

Genau. Und wir wollen diesen Film wirklich ehrlich machen und Fragen zu all den „Tabuthemen“ des Krieges aufwerfen. Und über die Zukunft unserer Protagonist:innen, über die Zukunft der Ukraine. Dieses Nebeneinander von Lachen und Schmerz, von Kindertheater und Beerdigungen, von Leben und Verlust, Konflikten und Hoffnungen – alles vor dem Hintergrund des Krieges direkt vor der Tür. Diese Erfahrung – zerbrochen, schmerzhaft, aber real – ist unser neues gemeinsames Fundament.

Juni 2025