Eine aufschlussreiche, auch peinliche Dokumentation über das Haus Hannover in der ARD, Teil 4: Die Schiebereien um das Evangeliar Heinrichs des Löwen

 

Heinz Markert

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Nachkriegsära. Das Evangeliar Heinrich des Löwen, Hauptwerk der romanischen Buchmalerei des 12. Jahrhunderts in Norddeutschland, war für den Marienaltar des Braunschweiger Doms bestimmt, wurde aber später Teil des Welfenschatzes.

 


Sicher ist, dass es bis 1945 im Besitz der Welfen blieb, nachdem es 1861 in den Besitz des Hannoveraners Georg V. überging. Heute ist es als deutsches Kulturgut im Besitz von Bund und Ländern. Obwohl im Besitz der Welfen, verschwand es 'Mitte des 20. Jahrhunderts auf mysteriöse Weise'. '1983 taucht es plötzlich wieder auf und wird bei Southebys meistbietend verkauft'.- Wie kam es zu dieser Fragwürdigkeit?

 

Bund und Länder kauften es 1983 'für den Rekordpreis von umgerechnet 17 Mill. Euro, um einen Verkauf ins Ausland zu verhindern'. Hierzu Rolf Wernstedt (damals Landtagsabgeordneter): 'Das kann doch wohl nicht wahr sein, dass man ein solches wichtiges Kulturgut einfach in einer weltweiten Versteigerung anbietet'. Er will sagen, dass der angemessene Weg doch gewesen wäre, 'dass wertvolle Kulturgüter zunächst dem eigenen Land angeboten werden'. Mysteriös ist, dass der Verkäufer anonym blieb. Die Welfen weisen von sich, damit etwas zu tun zu haben.

 

Es ist bis heute nicht bekannt, wo die deutschen Steuermittel hingegangen sind. Damals aktuelle Gerüchte besagten, dass die Welfen etwas damit zu tun hätten. Wollten sie verschleiern, dass sie den Preis beeinflussen wollten, unter Umgehung des Vorkaufsrechts von Bund und Ländern?

 

Der britische Kunstexperte Brian Sewell 'bemüht sich, in den Wochen vor der Versteigerung den Verkäufer zu identifizieren'. Dabei trifft er auf massiven Widerstand.

Seine Recherche führt ihn zu Ernst August. Dieser verweigert es, sich zu äußern. Dann kommt die Überraschung: 'Etwa eine Woche später hämmerte jemand an meine Tür. Da stand ein junger Mann und es stellte sich heraus, dass es der Sohn von Prinz Ernst war'.

'Er war gekommen, um mich zu bedrohen, zu beleidigen. Das Ganze war unmöglich, unerträglich. Es würde böse für mich enden, wenn ich nicht den Mund hielte...'

 

Deutete dieses erschreckende Vorgehen doch auf eine 'Mittäterschaft' des Welfenclans hin? Wer war der Eigentümer des Evangeliars? - Martin Bailey, britischer Journalist, geht der Sache um das Evangeliar nach. Wo war das Evangeliar vor der Versteigerung? Was geschah überhaupt mit diesem ab dem Einschnittsjahr 1945?

 

'Bei seinen Recherchen stößt Martin Bailey auf Akten des britischen Außenministeriums. Sie belegen, dass das Evangeliar nach Kriegsende im Besitz der Welfen war'. Auf der Marienburg, Burg der Welfen, 'findet im Dezember 1945 eine geheime Übergabe statt. Herzog E.A. beauftragt einen Kurier des englischen Königs das Evangeliar heimlich nach England zu schmuggeln'. Dies hätte nicht geschehen dürfen, denn es hätte für den Grenzübertritt einer Exportgenehmigung bedurft. The 'Art Newspapaper' stellt fest, dass die Operation 'verstohlen, im Geheimen' stattfand. Das Buchkunstwerk wird von der englischen Königsfamilie, Verwandten der Welfen, in Verwahrung genommen.

 

Ende 1945 erhält ein britisches Museum ein Angebot zum Kauf des Werks.- Brauchten die Welfen Geld? - Der Verkauf scheitert aber, denn 'das Victoria-and-Albert-Museum' lehnt den Erwerb eines illegal nach England verbrachten Kulturguts ab. 'Die Affäre zieht Kreise'.

Das Außenministerium kommt dem versuchten gesetzeswidrigen Handel auf die Schliche, von dem auch der König wusste. 'Im Außenministerium war man sehr verärgert und fürchtete einen Skandal...'. Das britische Außenministerium erwirkt, 'dass das Evangeliar sofort wieder nach Deutschland zurückkehrt', was im März 1946 auch geschieht. Der anscheinende Plan des Herzogs, 'es heimlich zu verkaufen, schlug also fehl'.

 

Klar wird, dass eine Unterschrift des Herzogs und seines Sohns den Beleg erbringt, dass die Welfen die letzten bekannten Eigentümer des Kunstschatzes waren.- Daran muss die Frage anschließen, ob die Welfen doch mit der Versteigerung im Jahr 1983 zu tun haben?
Nach der Versteigerung und anlässlich der Zurschaustellung der Evangeliars kamen damals hitzige Diskussionen auf. Es gab Druck auf die Welfen. Sie sollten sich erklären. Die Staatskanzlei unter Ministerpräsident Albrecht bittet, Auskunft zu geben.

 

Die Auskunft von Seiten des Juniorprinzes lautet: 'Das Evangeliar Heinrichs des Löwen befand sich zum Zeitpunkt der Versteigerung und dies seit vielen Jahren nicht mehr in unserem Eigentum'.- 'Kann das stimmen? ' - Wenn es stimmte, dann müsste das Evangeliar vor 1983 schon verkauft worden sein. 'Aber wann, wo und an wen?'

 

Wolf Werndtedt wird ein amtliches Memo des niedersächsischen Kultusministeriums zu 'zugespielt'. Dies besagt, dass es geheime Verhandlungen zwischen Ministerium und dem Haus Hannover gab, in denen das Land versuchte, das Evangeliar direkt von den Welfen zu erwerben. Es gibt eine 'Aussage des Vermittlers durch Aktennotiz', die Brisanz aufweist. Rolf Wernstedt: 'Es gibt die definitive Aussage, dass das Evangeliar im Besitz eines Konsortiums sei, an dem auch das Haus der Welfen beteiligt sei. Insofern ist die Aussage im Landtag...als ob die Welfen eigentumsrechtlich damit gar nichts zu tun hätten, definitiv falsch'.

 

Die Welfen haben also versucht, eine wichtigen Aspekt zu verhehlen. Denn immerhin sagt das Memo aus, 'man habe eine Interessengemeinschaft gebildet, der die Handschrift seither gehöre' – unter Beteiligung des Hauses Hannover. Eine Taktik des Verschleierns wurde demnach angewandt. Die Welfen partizipierten also an der Versteigerungssumme von heute 10 Mill. Euro - aus Steuermitteln.- Heinrich Prinz bestreitet aber dennoch diesen Sachverhalt.- Sprecher der Sendung: 'Was stimmt denn nun?' Anscheinend ist wohl klar, dass die Welfen den Stand der eigentlichen Tatsachen vernebeln.- 'Ist es statthaft deutsches Kulturgut meistbietend zu verscherbeln...?'

 

Rolf Wernstedt: 'Dies ist eine der ältesten Adelsfamilien Europas, die auch eine bestimmte Verantwortung nicht nur gegenüber ihrer Familiengeschichte haben, sondern auch gegenüber den Ländern und den Völkern, über die sie geherrscht haben...' - Mit ihrem Coup aber machen sie sich zu bloßen Privatiers. 'Das ist schäbig und unaristokratisch'.

 

Wieder also eine dunkle Seite der Vergangenheit, die die Welfen verhehlen? Es ist durchgängig bekannt, dass E.A., der Heutige, ein gespanntes Verhältnis zur Öffentlichkeit hat (man sieht ihn, wie er auf den Kameramann einhaut). Interessiert ihn das alles nicht?

 

1999 kamen Stimmen in Umlauf, die die Rolle der Welfen in der Nazizeit thematisierten. Sprecher: 'Damals versprach er, eine Historikerkommission werde sich mit der braunen Vergangenheit der Welfen befassen...Alle Unterlagen würden geprüft und veröffentlicht, ganz egal, was dabei herauskomme. Seitdem hat man darüber nie mehr etwas gehört'.-

Heinrich Prinz: 'Was soll meine Familie eine Historikerkommission einschalten? Das sollen doch die Historiker selber forschen'. Auf einige gestellte Fragen des Filmteams antwortet die Verwaltung der Welfen, 'E.A. habe die ursprünglich geplante Aufarbeitung dieser Epoche krankheitsbedingt nicht mehr umsetzen können'. Sprecher: 'Für die wirtschaftlichen Belange sei jetzt sein 1983 geborener Sohn Prinz E.A. zuständig.
Dieser wolle und müsse, so das Schreiben, sich selbstverständlich auch dieses Themas annehmen'.

 

Weiter: 'Die Welfen blicken auf eine jahrhundertelange Tradition zurück, aber auch auf dunkle Zeiten. Damit müssen nachfolgende Generationen dieser Familie leben und sich auch mit den unangenehmen Folgen ihrer Geschichte auseinandersetzen. Sie sind es nicht nur den Opfern schuldig'.

 

Sabine Leitfellner: 'Finanzielle Entschädigung kann immer nur ein natürlich schwacher Aufguss sein. Es kann niemals eine Wiedergutmachung sein...Es ist ein Zeichen und es ist eine symbolische Geste, heißt eben: dass etwa schreckliches passiert ist – und es tut uns leid'.

 

Sprecher: 'Auf unsere Anfrage hin kündigt E.A. [der Jüngste] an, ein Historiker werde die Geschichte aufarbeiten. Das könne bis zu einem Jahr dauern'. 'Wird es wieder, wieder nur bei der Ankündigung bleiben? - Oder gilt erstmals?: 'Adel verpflichtet!'

 

 

Schlussfolgerungen aus drei Kapiteln::

 

  • die Welfen verdienten am Frieden und am Krieg

  • sie waren in der bisher dunkelsten Epoche Teil des Systems

  • ausgebeutete Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge arbeiteten für sie

  • es gab auch damals schon Verleihagenturen – von KZ-Häftlingen

  • die Welfen waren an der Vernichtungsmaschinerie für einen aussichtslosen Krieg beteiligt

  • sie waren Profiteure des Grauens

  • die giftigen Gase von Leichnamen in geheimen Stollen der Kriegsproduktion;

  • Urteil hierüber: keine Verbalisierung möglich

  • der Welfen-Adel tauchte bislang immer ab, wenn es um Aufarbeitung ging

  • Vorschlag für die Geschichtsschreibung: es ging bloß um jüdisches Habgut als schlichter Tatsache der Triebfeder des Nationalsozialismus;

  • rassistische Motive waren nur Camouflage

  • die Nazis und die Unternehmen, die ihnen dienten, waren vor allem Räuber

 

Abschließend stellt sich für den Autor, der in drei Anläufen die skandalösen Fälle von Versagen des Welfenclans sich eingehender vorgenommen hat, in einem weiteren Schritt die bange Frage, ob die Entwertung des Menschen - eine der zentral herausspringenden Begrifflichkeiten in Eugen Kogons Werk 'Der SS-Staat' – nicht nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs systemisch noch weiter voran geschritten ist (je mehr wir uns vom letzten Weltkrieg entfernen). Ein Problem, an die Einsichten Freuds anknüpfend, scheint unverkennbar:


Die Vergangenheit ist niemals vorbei, sie kehrt in Modifikationen, gar in Steigerungen, wieder. Zumal die Mittel der Inhumanität und des Vernichtungswillens inzwischen bis ins Grenzenlose gesteigert wurden. Das alte Übel kehrt immer wieder zurück. Die daraus resultierende Problematik ist in Freunds Werk gekennzeichnet mit den Termini: die Regression, die Wiederholung, die Wiederkehr der Vergangenheit. Freud hatte sich gefragt: warum Krieg, warum Gewalt? Und Fritz Bauer wußte es auch, als er 1964 äußerte: Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.

 

 

Wirkt die Herabstufung des Menschen im gegenwärtigen Raubtierkapitalismus nicht weiter fort, der, um sich zu retten, unter der Schirmherrschaft des IWF und der ihm angeschlossenen konfusen Politik immer neue, gesteigerte Austeritätsprogramme über die Gesellschaften verhängt und exekutiert, mit denen die Kleinen für die Vergehen der Großen, der Superreichen und ihrer Anlageberater bzw. Trader, zur Kasse gebeten werden, während auch noch gegen die Staaten als verletzliche Gemeinwesen ohne jede Hemmung gewettet wird, wenn sich die Gelegenheit bietet. Selbst mit der Destruktivität wird noch ein abgründiges Geschäft betrieben.

 

Ist die bodenlose Entwertung des Menschen im Nationalsozialismus nicht die Blaupause für das Auseinanderbrechen der Menschheit nicht nur in einem möglichen Finanz-Tsunami, sondern auch in den gegenwärtig immer denkbareren kriegerischen, asymmetrischen Konflikten?

 

Hat die Parole 'Arbeit macht frei' nicht doch zu tun mit der Latrinen-Parole: 'Irgendeine Arbeit – und sei sie noch so schlecht bezahlt - sei besser als gar keine'? - Leiharbeit und Niedriglohn – eine Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie!

 

 

INFO:

 

Film: 'Adel ohne Skrupel', Die dunklen Geschäfte der Welfen, NDR 2014

Ein Film von Michael Wech und Thomas Schuhbauer

 

http://www.youtube.com/watch?v=eMBESIyESlU

 

Das vollständig erhaltene Evangeliar wird in der Herzog August Bilbliothek in Wolfenbüttel unter der Signatur Codex Guelf. 105, Noviss. 2° aufbewahrt und aus konservatorischen Gründen nur alle zwei Jahre ausgestellt. (wikipedia)