Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 18. Dezember 2014, Teil 1

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) – Wie ein Lindwurm schiebt sich eine Wolke lautlos innerhalb weniger Minuten vor das prächtige Alpenpanorama. Bereits 1924 hat der deutsche Alpinist und Bergfilmpionier Arnold Fanck das magische Phänomen der „Maloja Schlange“ im Engadin mit der Kamera dokumentiert,

 

ein Naturspektakel, das auch Dichter und Denker wie Friedrich Nietzsche oder Hermann Hesse zu Versen inspirierte.

 

DIE WOLKEN VON SILS MARIA

 

In dem jüngsten Film von Olivier Assayas („Carlos- Der Schakal“, „Die wilde Zeit“) steht das mystische Wolkenband als Symbol für die undurchsichtige Grenze zwischen wahrer Identität und Schauspiel.

 

Juliette Binoche ist – in einer ihrer stärksten Rollen seit „Die Liebenden von Pont Neuf“ - Maria Enders, eine Schauspielerin Ende 40. Nach dem Tod ihres prominenten Mentors Wilhelm Melchior soll sie in einer Theateradaption eines Stückes mitspielen, mit der sie als 20-Jährige berühmt wurde. Damals verkörperte sie die durchtriebene, junge Sigrid, die ihre wesentlich ältere Chefin Helena verführt und schließlich in den Selbstmord treibt. Heute soll Maria die Seiten wechseln und die enttäuschte, verletzte, reife Verlegerin spielen. Sie zögert, weil ihr das Angebot das eigene Alter vor Augen führt. Die dankbarere Rolle des jungen Mädchens hingegen soll Jo-Ann Ellis (Chloë Grace Moretz) übernehmen, ein skandalträchtiges Starlet aus Hollywood.

 

Trotz großer Bedenken willigt Maria in den Vertrag ein, bereut die Entscheidung aber schon bald, nachdem sie sich in dem in Sils Maria gelegenen Haus ihres einstigen Entdeckers zum Studium des Textes zurückgezogen hat. Doch ohne großen Verlust ist ein Rücktritt von dem Vertrag nicht mehr möglich. Also beißt sich Maria durch den Text. Ihre einzige Stütze in der Abgeschiedenheit ist ihre junge Assistentin und Sekretärin Valentine (Kristen Stewart).

 

Di„DIE WOLKEN VON SILS MARIA könnte mit langen, packenden, bisweilen auch düsteren Dialogen selbst ein Theaterstück sein, entwickelt sich der Film doch nach seiner Exposition zu einem intensiven Kammerspiel zwischen Juliette Binoche und Kristen Stewart.

 

Die Frauen führen eine seltsame Beziehung, mal reden sie wie Mutter und Tochter, mal wie zwei Freundinnen, dann aber auch wieder wie Kontrahentinnen, die aufgrund ihres Altersunterschieds und verschiedener Weltanschauungen schwer einander verstehen. Zunehmend geraten sie in Streit.

 

Valentine, jung und selbstbewusst hat sich in der modernen PR-Welt perfektionier, dagegen ist Maria zwar eine Diva, aber bereits ein sinkender Stern im gnadenlosen Geschäft der Schauspielerei.

Es ist spannend, den beiden dabei zuzusehen, wie sie in langen Sitzungen die Dialoge des Stücks studieren und darüber diskutieren, wie sich der Text nach vielen Jahren verändert.

 

Es gibt viele Metaebenen, Spiegelungen und Anspielungen in diesem raffinierten Vexierspiel, in dem sich die Grenzen zwischen Kunst und Leben zunehmend auflösen. So wie die Kunstfiguren Sigrid und Helena in Melchiors Stück, sind auch Maria und Valentine auf verzwickte Weise voneinander abhängig, denn erst in der Synthese ihrer unterschiedlichen Betrachtungen ist die Interpretation vollkommen. Mit schlichter Eleganz inszeniert Assayas den fließenden Strom der stets nur kollaborativ entstehenden Gedanken seiner Heldinnen und erweist en passant dem 2010 verstorbenen, realen Theaterautor und Regisseur Wilhelm Melchior Reverenz, der in den 1960er Jahren die Schweizer Nationalität annahm und mit seinem Nihilismus für eine ganze Generation zur Kultfigur-, jedoch im Ausland nie übersetzt wurde. Er ist der Urheber des als sein zentrales Werk geltenden Kammerspiels „Maloja Schlange“.

 

Virtuos verbindet Assayas seine Geschichte mit unaufdringlichen Betrachtungen zum Älterwerden, Starrummel und Boulevard, und das mit schwarzhumorigen, sarkastischen Sottisen und einigen Thriller-Elementen. Einmal erlebt man Marias Theaterpartnerin Jo-Ann Ellis in einer grotesk übersteigerten Szene eines Science-Fiction Blockbusters. Erbarmungslos, übermächtig und brutal besiegt sie da im monströsen Panzergewand eine andere Heldin, entpuppt sich dabei freilich unweigerlich als bedeutungsloses Dummerchen.

 

Aber das Naturspektakel „Maloja Schlange“ scheint auch in düsterer Weise auf die Schauspielerin und ihre Assistentin abzufärben: „Vielleicht begeht ja Helena am Ende gar keinen Selbstmord, sondern verschwindet einfach nur“, sagt Valentine einmal zu der an ihrem Part verzweifelnden Maria. Bald darauf ist auf mysteriöse Weise auch sie selbst verschwunden.

 

Die Besetzung könnte nicht erstklassiger sein, stellen doch die 50-jährige Europäerin Binoche und die junge Blockbuster-Darstellerin Stewart auch in der Realität die angesprochenen Gegensätze ideal dar. In Nebenrollen brillieren deutsche Schauspieler wie Angela Winkler, Lars Eidinger, Hanns Zischler und Nora von Waldstätten.

 

Wenn sich am Ende ein junger Regisseur gegenüber dem heutigen Stargeschäft sehr kritisch positioniert, dann ist das keineswegs eine kulturpessimistische, aber sehr wohl selbstbewusste Haltung gegen den Ausverkauf großer Schauspielkunst.