Das 36. Max Ophüls-Festival vom 19. bis 25. Januar in Saarbrücken

 

Kirsten Liese

 

Saarbrücken (Weltexpresso) - Man hat schon so manch’ beklemmendes Drama gesehen um häusliche Gewalt, aggressive Prügel-Väter, wehrlose Mütter und schutzlose Kinder in Angst. Insbesondere beim Max Ophüls Festival in Saarbrücken, wo sich junge Regisseure mit ihren Erst- und Zweitfilmen präsentieren, sind dysfunktionale Familien seit Jahren ein Dauerbrenner.

 

Doch täuscht sich, wer annimmt, so langsam könnte sich das Thema erschöpft haben, gilt es doch, wie die jüngste, 36. Festivalausgabe zeigte, die am Wochenende mit einer Preisverleihung zu Ende ging, noch einiges aufzuarbeiten. Besonders an die Nieren gingen innerhalb des zentralen Langfilm-Wettbewerbs zwei Beiträge, in denen Jungen von ihren Eltern in grauenvolle Erziehungsheime abgeschoben werden. Die jugendlichen Helden haben sich nichts zuschulden kommen lassen, aber die Begründung ihrer Väter, sie seien „schwer erziehbar“, stellt niemand infrage, so lassen sich auch die willensschwachen, ihren Männern hörigen Mütter ihre Söhne aus den Armen reißen.

 

Basierten diese Geschichten nicht auf realen Begebenheiten, man würde das kaum glauben. Die Diakonie „Freistatt“, nach der Marc Brummund sein bewegendes Drama betitelt hat, betrieben von heuchlerischen Christen, muss geradezu eine Hölle gewesen sein. Jedenfalls beginnt dort für den 14-jährigen Wolfgang im Sommer 1968 ein Martyrium. Er muss harte Zwangsarbeit im Moor verrichten, wird gedrillt, geschunden, geschlagen, erniedrigt und misshandelt. Auch unter den Leidensgefährten herrscht Zwietracht und Gewalt. Wenn einer nicht „spurt“, lässt Haustyrann Brockmann kollektiv alle Zöglinge hungern.

 

Die schlimmste Enttäuschung erfährt der verzweifelte Wolfgang, als ihm zusammen mit einem Freund das nahezu Unmögliche gelingt, eine Flucht nach Hause: Was tut die geliebte Mama? Sie liefert den Sohn entgegen ihrer Versprechungen wieder seinen Peinigern aus.

 

Wie nur konnte just in der wilden Aufbruchszeit zwischen Studentenprotesten und sexueller Revolution in einer Jugendeinrichtung die Zeit so stehen bleiben? Und was nur ging in den Eltern vor, dass sie ihre Kinder religiös verblendeten Sadisten anvertrauten? Brummunds hoch spannender psychologisch subtiler Film wirft viele Fragen auf und hätte eigentlich mehr verdient als den Publikumspreis und den Preis der Jugendjury.

 

Aber zwei thematisch ähnliche Produktionen wollte man offenbar nicht prämieren. Das Schweizer Drama „Chrieg“, das bedrückend Guantanamo-ähnliche Zustände in einer Jugendeinrichtung beschreibt, hat die Juroren offenbar mehr bewegt, es gewann den mit 36.000 Euro dotierten Max Ophüls Preis. Und das keineswegs zu Unrecht und vielleicht deshalb, weil es in der Gegenwart spielt und deshalb noch unfassbarer erscheint.

 

Benjamin Lutzke (Darstellerpreis) ist hier Matteo, ein Teenager, der nicht nur wortkarg, sondern auch schrecklich einsam ist. So einsam, dass er einmal sein Geschwisterchen, ein Baby, in den Wald entführt und es fragt, ob es nicht, wenn es einmal groß ist, sein Freund werde. Aber den Hilfeschrei nach Zuwendung nimmt niemand wahr. Matteo steht eine schwere Leidenszeit in einem Camp in den Bergen bevor.

 

Konsequent und schonungslos zeichnet Regisseur Simon Jaquement nach, wie aus einem friedlichen Außenseiter ein kaltblütiger Schläger wird, der nach Jahren der Folter nichts mehr empfindet als Hass und gegen die Welt der Erwachsenen zurückschlägt, allen voran gegen den Vater, der ihn wie einen Schwerverbrecher einfach abholen ließ.

 

In den schlimmsten Szenen dieses bisweilen unerträglich gespenstischen Films nutzen verrohte Jugendliche den Kontrollverlust ihrer Aufseher gnadenlos aus. Sie legen Matteo an eine Kette und zwingen ihn unter Schlägen wie ein Pitbull zu bellen. Aus dem verschlossenen Neuzugang soll eine gefährliche, der Clique würdige Bestie werden.

 

Es sind dies die vielleicht schwer verdaulichsten Szenen eines Wettbewerbs, der mit zahlreichen, eines A-Festivals würdigen Weltpremieren das hohe Niveau der Vorjahre noch übertraf. Das zeigt sich in erster Linie daran, dass Produktionen im soliden, klassischen Fernsehformat deutlich abnahmen zugunsten einer bestechenden Filmkunst von visueller Wucht.

 

Dass mit „Driften“ ausgerechnet einer der wenigen Wettbewerbsbeiträge den zweitwichtigsten, inklusive Verleihförderung mit 11.000 Euro dotierten Preis des Saarländischen Ministerpräsidenten gewann, der sich bildsprachlich nicht zwingend der großen Kinoleinwand empfiehlt, ist insofern ziemlich schade. Karim Patwa erzählt eine ganz ähnliche Geschichte wie Christian Petzold in „Wolfsburg“ von einer Annäherung zwischen einem jungen Raser, der ein Kind tot gefahren hat, und dessen Mutter (Sabine Timoteo), aber weniger dicht und mit einer etwas langatmigen Introduktion.

 

Dagegen galten die düstere Kafka-Adaption „Der Bau“ um einen Psychopathen mit krankhaftem Kontrollbedürfnis (großartig: Axel Prahl), das viel beachtete, raffiniert mit Thrillerelementen gespickte österreichische Psychodrama „Ma Folie“ um eine fatale Liebesbeziehung, oder das packende Kammerspiel „Verfehlung“ um einen mit Abgründen konfrontierten katholischen Seelsorger zu Recht als große Favoriten. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass eine Jury die Perlen übersah.