Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 2/25
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) –Trauern zu Lebzeiten, eine Beerdigung und die dazugehörigen Gefühlsaufwallungen vorwegnehmen, in eine solche Situation bringt uns dieser Film auf Französisch, der im Senegal spielt und einen starken Eindruck hinterlassen hat, auch wenn er gar nicht wie eine Fiktion wirkt, sondern wie ein hervorragend mit Leben bereicherter Dokumentarfilm.
Griechische Tragödien aus der Antike fallen einem spontan ein, wenn noch vor dem ersten Bild, von einem wogenden Meer hinterfangen im Chor intoniert wird: „Es war einmal…“ Und dann ist man erst einmal mit Beobachten und Interpretieren beschäftigt. Denn die Kamera fällt erst in Großaufnahme auf ein Auge und dann wird die Kamera zum Auge selbst, nimmt die Position dieses Auges ein, wenn sein Blick auf die Umgebung fällt und auch die Gegenstände, auch eigene Körperorgane in Großaufnahme erscheinen und sich der Besitzer der Augen ihrer versichern muß. Wieder eine beeindruckende Seherfahrung, daß man Details von Gegenständen oder diese, stark vergrößert, nicht wiedererkennt.
Wir als Zuschauer sind nicht gescheiter, aber auch nicht dümmer als der Mann im besten Alter, um den es geht, der jetzt aus seinem Bett aufsteht und sich lauter Gegenständen aus der Kindheit gegenübersieht, einem Schaukelstuhl inklusive. Er klatscht sich kaltes Wasser ins Gesicht, bleibt aber benommen, erst recht als er die Türe öffnet und sich den erwartungsvollen Gesichtern der ganzen Familie gegenübersieht, die ihn sofort in ihre fast hysterischen, aber zutiefst liebevollen körperlichen und seelischen Trauerrituale einbinden. Der äußerlich unbeschadete, geradezu pumperlgesunde Mann wird an diesem Tag noch sterben.
Satché (präsent und gleichermaßen ein Held wider Willen, Saúl Williams), der sich gesund fühlt, weiß von seinem baldigen Tod und erkennt auf diesem Hintergrund alles, was passiert, als unabänderlich an, fühlt dadurch eben auch alles intensiver und so wird sein Gang durch den Tag der prallste und lebensvollste, den man sich vorstellen kann, voller Liebe und Freude, auch wenn ihm bittere Wahrheiten von Anverwandten, der Geliebten und der eigenen Frau gesagt werden. Es liegt über dem ganzen Film eine menschliche Wärme, die überspringt und die doch heikle Thematik kommt ohne Peinlichkeiten aus.
Regisseur Alain Gomis gelingt eine uns unbekannte Umkehrung. Einer der ersten Sprüche, die über den noch Lebenden, bald aber Toten gesagt wird, ist der Hinweis, daß er alle Chancen hatte, als er nach Amerika zum Studieren ging, aber anders als die anderen Senegalesen, nicht dort den Aus- und Aufstieg schaffen wollte, sondern lieber wieder zurückkam. Von den Senegalesen, die weggehen und nicht zurückkommen, handeln sonst nämlich häufig Filme im Senegal.Es bleibt ein tiefer Eindruck von den menschlichen Beziehungen im Senegal und deren bunter Welt.