Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 4/25
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) –Das Mädchen Gaelle( Agathe Bonitzer) wird entführt und vom Kidnapper (Reda Kateb) im Kellerverlies ‚gehalten’. Er versorgt sie gut, verhält sich wie ein Vater, aber eben auch mit aller Brutalität, wenn sie opponiert. Sexuell belästigt er sie nicht. Sonst total. Der Film zeigt nun in einer Mischung aus Rückblenden und Jetztzeit das mehrschichtige Verhältnis der beiden, in dem die kluge Strategie der Gefangenen siegt.
Jeder muß bei dieser Fallgeschichte, die für Regisseur und Drehbuchautor Frédéric Videau seine eigene ist, an die Leiden der Natascha Kampusch denken, was bei manchen einen Widerstand auslöst, weil es etwas Nachgeahmtes hat. Der Regisseur verweist allerdings darauf, eine Geschichte wie diese hätte ihn nicht interessiert, ihm sei es um das Verhältnis der beiden gegangen, in der Opfer und Täter eine Lebensbasis finden mußten, von der aus jeder andere Ziele hatte.
Deshalb kommt für ihn auch das sogenannte Stockholm-Syndrom für seine Filmerzählung nicht in Betracht, denn hier identifiziert sich Gaelle nicht mit dem Täter, sie muß mit ihm leben, wechselt aber in ihren Haltungen ständig, was er auch tut, sie aber mit der Konsequenz, daß sie zunehmend die Bestimmerin wird und Freiräume erreicht, bis seine Widerstandskraft gegen ihre Ausbrüche erlahmt und sie fliehen kann und jetzt die Aufarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse und Verhältnisse beginnt.
Der Film fängt mit einer Sequenz an, die man erst später versteht. Ein junger Mann hat ein übles Auge. Als ihn sein Arbeitskollege anschaut und anspricht, schlägt er diesen zusammen. Das kaputte Auge hatte ihm Gaell bei einer Befreiungsaktion verpaßt. Agathe Bonitzer spielt diese Rolle mit einer körperlich widerständigen Kraft und klugen Strategien, wobei ihr das eine oft im Wege des anderes steht. Wie aber weiterleben, wenn der Schrecken zu Ende ist, der gleichzeitig das ganze bisherige Leben bedeutete.
Hier zeigt der Film Schwächen, weil der Aufenthalt dieser Gaell unter der Obhut von Psychologen und Psychiatern deren Angebote zur Aufarbeitung ihres Traumas nicht deutlich machen. Deshalb kann man auch nicht richtig verstehen, weshalb die sehr liebevolle Mutter so selten auftaucht, mit der die Tochter intensive Nähe genießt. Gaell auf jeden Fall ist eine starke junge Frau geworden, von der man erwarten darf, daß die Selbstheilungskräfte ihre Wirkung tun und sie in ein selbstbestimmtes Leben aufbricht und ein eigenes Leben führen kann, während der Entführer sich selbst gerichtet hatte, was sie akzeptiert.