Wer bekommt die Bären? Die Wettbewerbsfilme auf der 62. Berlinale vom 9. bis 19. 2. 2012, 10/25

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) –Der irische Freiheitskampf, besser der Kampf der IRA im irischen Teil des Vereinigten Königreiches, Nordirland, bildet den Grundton in diesem Film von James Marsh. Colette (sehr zart, verwirrt und verwirrend, sehr irisch dazu: Andrea Riseborough), Mitglied einer aufständischen Familie, sucht ihre Rolle im tödlichen Kampf gegenüber der Regierung, aber auch im verschlungenen Mit- und Gegeneinander der Familienmitglieder. Am Ende verlieren alle.

 

Der Film beginnt mit einer Szene in Belfast im Jahr 1973, in der das Mädchen Colette ihren Bruder mit Geld verführt, ihr etwas zu holen, wozu er nach draußen muß, wo er in die Schußlinie von englischen Sicherheitskräften gerät und stirbt. Den Blick des Vaters zum sich seiner Schuld bewußten Mädchen nehmen wir noch mit, wenn die nächste Szene uns zwanzig Jahre später zeigt, wie dieselbe Colette in einer Londoner U-Bahn-Station ihre Tasche mit einer Bombe auf der Treppe stehen läßt.

 

In dieser Szene, in der sie sich sehr unsicher verhält, so als ob sie sich beobachtet fühlte, was wir erst einmal für Paranoia angesichts der bösen Tat halten, stellt sich dann schnell heraus, daß sie längst im Visier des Geheimdienstes stand, der ihre anschließende Flucht überwacht und sie festnimmt. Dabei geraten der Geheimdienstoffizier Mac –der bekannte Hollywoodstar Clive Owen hat eindrucksvoll die Statur dazu -  und die erst einmal aufrührerische und schweigende Terroristin aneinander. Mac erläutert ihr die Sachlage anhand einer dicken Mappe mit waschechten Beweisen ihrer bisherigen Taten: Entweder sie arbeitet mit dem Geheimdienst zusammen und spioniert ihre Familie aus oder sie wird ihren kleinen Sohn infolge der lebenslänglichen Haft nie wiedersehen.

 

Diese Szenen nun sind in einem diffusen Licht gedreht, das ansonsten den irischen Landschaftsaufnahmen an der Küste sehr viel später eigen ist. Dieses Licht kommt einem vor wie die Seelenzustände dieser Colette, die im Niemandsland eine Entscheidung zu fällen hat, die so oder so nur falsch sein kann, weil es eine richtige nicht gibt. Sie sagt die Zusammenarbeit zu, hält aber gleich den ersten Termin nicht ein und verhält sich allen gegenüber merkwürdig, weshalb sie auch sogleich den Verdacht der Brüder erregt.

 

Wir erleben im Folgenden eine Colette, die im Grund jeden täuscht, auch jeden verrät, mal die eine, dann die andere Seite in diesem politischen Konflikt, die also auch sich selbst verrät, keine eigene Position findet und hält, weil sie nur ein Ziel hat, ihren Jungen aus der Schußlinie zu halten. Hier erhält der spannende Film zusätzlich Tiefgang: wir erleben mit dem Glück am Sohn und die Angst um ihn durch die Mutter Colette immer wieder auch die Anfangsszene des Film, als sie den kleinen Bruder ungewollt in den Tod schickt, mit. Das wird mit keiner Silbe erwähnt, mit keiner filmischen Andeutung evoziert. Das hat Regisseur Marsh gar nicht nötig. Die zunehmende Verwirrung der Colette ist auch unsere eigene, weil kleiner Bruder und Sohn längst zu einem Phänomen verschmolzen sind, das die Hauptrolle spielt und die eigentliche Melodie dieses Films wird.

 

Deshalb versteht man die wechselnden Haltungen der Colette gegenüber Geheimdienst und ihrer Familie nicht – und versteht sie auf dem psychologischen Hintergrund dann doch. In diese schwierige Situation hinein, kommt als weiteres Unheil, daß Mac fühlt und die Beweise dafür findet – er ist schließlich Geheimdienstmann -, daß seine ‚Klientin’ Colette das Bauernopfer seiner eigenen Orgarnisation für eine als wichtiger angesehene Operation werden soll, was er verhindern möchte.

 

Längst ist für ihn aus dieser eigentlich rationalen Beziehung zu Colette eine irrationale geworden, was sie für Colette immer schon war. Die beiden ziehen sich an, stoßen sich ab. Zudem stellt sich heraus, daß der Geheimdienst schon zuvor die Finger in dieser Familie hatte. Es gibt keine Sicherheit für niemanden, weder in der Erkenntnis, noch für das Leben. Es sterben noch einige, doch das soll nicht verraten werden, denn der Film ist auch ein Thriller, allerdings einer von der subtilen Art, der davon lebt, wer überlebt. Ein hervorragendes Ensemble läßt zudem den Überlebenskampf dieser Familie, die eindeutigen Geschlechterzuweisungen und daraus resultierenden Handlungen fühlbar werden.