Serie: 9. SchulKinoWochen Hessen vom 9. bis zum 20. März 20 15: mit Locationscout IM LABYRINTH DES SCHWEIGENS, Teil 2
Thomas Adamczak
Wiesbaden (Weltexpresso) - Am 20. März 2015. Apollo Kino Wiesbaden; „Im Labyrinth des Schweigens“; Filmgespräch mit Locationscout Yvonne Wassong. Vier Schulklassen im Kinosaal. Lehrerinnen und Lehrer als Begleitpersonen.
Die einleitenden Worte spricht Marietta Gädeke, Pressesprecherin der 9. Schulkinowochen Hessen. Sie wünscht den Jugendlichen ein „superschönes Filmerlebnis“!
Hauptperson des Films ist der junge Staatsanwalt Johann Radmann (Alexander Fehling), der sich als Identifikationsfigur für Jugendliche geradezu anbietet. Radmann wird bislang nur bei Verkehrsdelikten eingesetzt. Er langweilt sich, träumt von ganz anderen Prozessen. Szene im Gerichtssaal. Der Saal ist leer bis auf den Richter und einer ihm gegenüberstehenden Angeklagten, ein ausgewählt hübsches Mädchen.Staatsanwalt Radmann hat sich verspätet. Der Richter, leicht gereizt wegen dieser Nachlässigkeit des Kollegen, kann seinen Blick kaum vom hübschen Gesicht der Angeklagten wenden. 50 DM soll sie berappen. Sie protestiert. Könne höchstens die Hälfte zahlen. Ob der Herr Staatsanwalt damit einverstanden sei, fragt der Richter, der bei dem Mädchen als guter Onkel in Erinnerung bleiben möchte.
Radmann kann seinen Blick mittlerweile ebenfalls kaum noch vom Gesicht der Verkehrssünderin lösen, wäre eigentlich für die Reduzierung der Strafe, aber es gibt ja Vorschriften. Für solche Bagatelledelikte werden 50 DM fällig. Das Mädchen explodiert, schimpft mit dem Staatsanwalt, beklagt dessen Herzlosigkeit. Der Richter genießt die Szene. Radmann guckt belämmert, zückt schließlich sein Portmonee und schießt dem Mädchen 20 DM vor. Die denkt gar nicht daran, sich zu bedanken, will das Geld alsbald zurückzahlen. Sie schimpft, attackiert den Staatsanwalt, ihre weibliche Überlegenheit genießend, aufs Neue. Der steht da wie ein Schuldiger. Umkehrung der Verhältnisse ins Gegenteil.
So wird dem Publikum die Hauptfigur vorgestellt. Ein Mann mit Prinzipien, doch auch ein Mann mit Herz, ein smarter, gut aussehender Bursche. Radmann wirkt sympathisch, er hat aber, was die jüngere deutsche Geschichte anbelangt, das ist für die Konzeption des Films entscheidend, von Tuten und Blasen keine Ahnung, wirkt unbedarft. Der Name Auschwitz sagt ihm überhaupt nichts. Es ist das Jahr 1958. Radmann hat ein Jurastudium hinter sich. Der 2. Weltkrieg ist seit 13 Jahren zu Ende. Der junge Staatsanwalt ist 28 Jahre alt und weiß nichts vom Holocaust, zumindest nichts von Auschwitz!
Radmann ist eine fiktive Figur, die stellvertretend für alle die stehen soll, die sich der Gnade der späten Geburt rühmen oder damit herausreden. Auschwitz ein Fremdwort? Das behauptet der Film, das wurde in den fünfziger, sechziger Jahren allüberall bis zum Überdruss geäußert: Wir wussten davon nichts. Wir hatten davon doch keine Ahnung. Darüber wurde doch nie gesprochen.
Die üblichen Ausflüchte, die üblichen Ausreden.
Der Regisseur Guilio Ricarelli zeigt in seinem Spielfilmdebüt „Im Labyrinth des Schweigens“, wie sich Radmann allmählich aus dem Tal der vermeintlich Ahnungslosen herausarbeitet.
Der „Unfähigkeit zu trauern“ (Alexander und Margarete Mitscherlich) entsprach nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine Unfähigkeit zu sprechen. Im Lande herrschte Schweigen, ein beredtes Schweigen, das durch eine aufgesetzte Heiterkeit der Wirtschaftswunderjahre überdeckt werden sollte. Dass diese Heiterkeit aufgesetzt ist, merkt man spätestens, wenn die Protagonisten des Films mit der NS-Vergangenheit konfrontiert werden.
Ein Journalist der Frankfurter Rundschau, Thomas Gnielka (André Szymanski), ist mit einem Überlebenden von Auschwitz befreundet. Dieser Mann, der seine Frau und Kinder in Auschwitz verloren hat, die Zwillingskinder wurden vom Lagerarzt Mengele mit entsetzlichen pseudomedizinischen Experimenten zu Tode gequält, erkennt auf dem Schulhof des Frankfurter Goethegymnasiums in einem Lehrer einen ehemaligen SS-Mann aus Auschwitz. Der Journalist, als 17-Jähriger selber nach Auschwitz abkommandiert und lange Zeit unfähig über seine Erlebnis zu sprechen, versucht am Gericht einen der Staatsanwälte für diesen Oberstudienrat, der an dem größten Menschheitsverbrechen beteiligt war, zu interessieren.
Die Herren Staatsanwälte winken ab. Auch das von dem Journalisten informierte Kultusministerium verspürt keinerlei Lust, dieser „alten Geschichte“ nachzugehen. Radmann wittert eine Chance, von den lästigen Verkehrsdelikten loszukommen. Und er lässt auch nicht locker, als er feststellt, dass er sich bei den Kollegen unbeliebt macht, wenn er diesen Fall verfolgt. Er will Klarheit. Wo Schuld ist, muss Strafe folgen, das ist seine Devise, nur hat er noch keine Ahnung, wie groß die Schuld ist, wie unsagbar die Menschheitsverbrechen, die er im Laufe der Ermittlungsarbeit aufdecken wird.
Genau deshalb ist Radmann als Person für jugendliche Zuschauerinnen und Zuschauer so geeignet. Er weiß über die NS-Zeit wenig bis nichts, aber er will Bescheid wissen, er erschließt sich Schritt für Schritt die ganze Entsetzlichkeit des Geschehens, und wir schauen ihm dabei zu. Radmann vernimmt Zeugen. Zunächst stellt er Fragen, die Ausdruck seiner Ahnungslosigkeit sind. Es geht nicht um ein paar Opfer, das hatte er erwartet, es geht um Hunderttausende, um Millionen. Seine Sekretärin, die die Zeugenaussagen protokolliert, wird in Großaufnahme gezeigt. Ihr Gesicht spiegelt die Fassungslosigkeit all derer, die bis zu diesem Zeitpunkt die Dimension des Verbrechens Auschwitz nicht kannten, vielleicht nicht kennen wollten. Die Tatsachen waren natürlich längstens bekannt und publiziert, wurden aber von der Öffentlichkeit tabuisiert, verdrängt, verleugnet.
Das ändert sich mit dem 1. Auschwitzprozess, der im Dezember 1963 im Frankfurter Römer beginnt. Der Film zeigt die fünf Jahre bis zur Eröffnung des Prozesses. Er verdeutlicht die Widerstände gegen die Aufklärungsarbeit bis in die höchsten Stellen des Landes. Der einen Schüler ohrfeigende Oberstudienrat am Frankfurter Goethegymnasium, der als ehemaliger Angehöriger der SS, einer von 8000 SS-Leuten in Auschwitz, an der fabrikmäßigen Tötung von Menschen beteiligt war, preist im Gespräch mit Kollegen auf dem Schulhof die Politik Adenauers, der in der BRD die „Schlussstrich“-Mentalität bediente, einen Bundeskanzler Adenauer, der an seinem Staatssekretär und engstem Vertrauten Globke bis zu dessen Pensionierung im Jahre 1963 festhielt, ungeachtet der Tatsache, dass Globke wegen seines Kommentars zur Nürnberger Rassegesetzgebung aus heutiger Sicht unhalt- und unzumutbar war. Nicht verwunderlich, dass Unterscharführer Schulz, mittlerweile Herr Oberstudienrat, im Kollegenkreis Adenauer in höchsten Tönen preist.
Radmann verfolgt trotz aller möglichen Erschwernisse, trotz Drohungen und Einschüchterungsversuchen sein Ziel, setzt seine Ermittlungsarbeit fort. Vor allen Dingen Mengele will er vor Gericht stellen, aber auch all die anderen Täter, derer er habhaft werden kann. 24 Angeklagte werden schließlich vor Gericht stehen.
Erst als er von seiner Mutter, die wieder heiraten möchte und deswegen seinen Vater als tot erklären lassen will, erfährt, dass sein Vater, anders als von ihm bislang geglaubt, NSDAP-Mitglied war, stößt Radmann an seine Grenze. Er verliert kurzzeitig die Nerven, kündigt, will mit der Vorbereitung des Prozesses nichts mehr zu tun haben, weil er meint, dass er dem Ausmaß der Schuld nicht gewachsen ist. Er begreift, dass er in einem Land der Täter lebt und zweifelt, ob er für den Auschwitzprozess der geeignete Mann ist. Wichtig die Szene, als er sich, aus dem Dienst ausscheidend, von seiner Sekretärin verabschieden will. Diese Frau, die bei der Vernehmung der Zeugen eine Gräueltat nach der anderen mitschreiben musste, fertigt ihren ehemaligen Vorgesetzten ab. Ihr fehlt jegliches Verständnis dafür, das zeigt ihr Gesicht, dass er sich jetzt aus der Verantwortung stehlen will.
Die Rolle des Generalstaatsanwalts Fritz Bauer
Durch ein Gespräch mit dem Hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer besinnt sich Radmann eines Besseren. Bauer macht ihm klar, dass es bei diesem Prozess nicht primär um Strafe gehe, sondern um die Opfer, die Erzählungen der Opfer, denn die Menschen sind vor allem die Geschichten, die sie erzählen. Und diese Geschichten, das ist die Überzeugung von Bauer, müssen erzählt werden, damit sie möglichst nie vergessen werden. Diese Lebensgeschichten soll die deutsche Öffentlichkeit zur Kenntnis nehmen und sich endlich mit Auschwitz auseinandersetzen.
Fritz Bauer sagt an anderer Stelle, also nicht in diesem Film, das NEIN sei in jeder Ethik, in jeder Religion entscheidend. Bauer hat vor allem in die Jugend große Hoffnungen gesetzt. Wegen der Begegnung mit einem Jugendlichen, den er zufällig im Auto mitnahm, erzählt er, habe er sich letztendlich entschlossen, aus dem Exil nach Deutschland zurückzukehren. Am Beispiel Auschwitz kann ein Bewusstsein dafür gestärkt und geschärft werden, dass Artikel 1 des Grundgesetzes - „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ - Neinsagen in bestimmten Situationen erfordert.
In Deutschland gab es Millionen von Nazis. 600.000 SS-Akten sind erhalten, 8000 SS-Leute haben in Auschwitz Dienst versehen. Sie alle haben mehr oder weniger mitgemacht, haben ein Nein in entscheidenden Situationen nicht über die Lippen gebracht, nicht einmal in ihrem Inneren verspürt. Fritz Bauer war nach den Auschwitzprozessen vor allem darüber erschrocken, dass keiner der 22 Verurteilten wenigstens im Nachhinein Reue gezeigt hätte. Kein Einziger hat Schuldeinsicht gezeigt.
Fritz Bauer ist zweifelsfrei eine zentrale Figur des Films, die sich in besonderer Weise für Gespräche mit Schülerinnen und Schülern anbietet. Im Film wird er in überraschender Weise eingeführt und vorgestellt. Noch weiß man nicht, dass es sich um Fritz Bauer, den Hessischen Generalstaatsanwalt handelt. In einem Raum sitzen mehrere Staatsanwälte und Oberstaatsanwälte beisammen, ins Gespräch vertieft. Die Tür geht auf, Bauer tritt ein. Sofort verstummt das Gespräch. Alle erheben sich, stehen an ihren Plätzen, schauen erwartungsvoll nach vorn, wo Fritz Bauer wortlos Platz nimmt. Erst als er sitzt, setzen sich die anderen Staatsanwälte, auch sie wortlos. Wenn man weiß, dass es sich um Fritz Bauer handelt, kann man die Szene so verstehen, dass ihm die Kollegen voller Ehrerbietung gegenüber stehen, das ihm mit der Inszenierung Respekt erwiesen wird. Aber so ist es vom Regisseur wohl nicht gemeint, sondern er verdeutlicht den typischen autoritären Charakter, den Heinrich Mann in DER UNTERTAN exemplarisch vorführte, Adorno und Horkheimer in ihrer berühmten Studie zur 'Autoritären Persönlichkeit' analysierten und der noch in der jungen Bundesrepublik 'funktioniert', was Bauer im Film sichtlich unangenehm ist.
Unter den vielen Fragen, die der Film im Betrachter auslösen wird, gibt es auch eine Frage zu dem Bäckermeister, einem freundlichen Herrn, der, als er vor seiner Bäckerei angesprochen wird, dem Fragenden spontan eine Brezel schenkt. Was für ein netter Mensch, denkt der Zuschauer. Und kurze Zeit später: Wie ist das möglich, dass ein Mensch, der an der industriellen Tötung von Menschen aktiv beteiligt war, hinterher so weiterlebt, als sei nichts, aber auch gar nichts gewesen? So ein freundlicher Typ, ein ganz "normaler" Mensch?
Der Film enthält Dutzende von Szenen, auf die sich lohnte näher einzugehen. Für die Arbeit mit Schülerinnen und Schülern bietet der Film also viele Gesprächsanlässe. Der Film zeigt, wie mühsam es war, endlich das Schweigen zu beenden und dem weit verbreiteten Lügen die allmählich beginnende Vergangenheitsbewältigung entgegenzusetzen. Fortsetzung folgt.