Endlich auf DVD und Blu-ray: SELMA, Teil 2

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Zur Berlinale im Februar fand auch – leider außerhalb des Wettbewerbs – die Aufführung von SELMA statt, ein Film, der dann am 19. Februar in deutsche Kinos kam. Auf der Pressekonferenz sprach ich die Regisseurin auf die Veranstaltung in Harvard an, auf der die Fritz-Bauer-Forscherin und Biographin Irmtrud Wojak am 18. Februar einen Vergleich der Filme SELMA von Ava DuVernay und FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN von Ilona Ziok vornahm.

 

Davon hatten wir nur gehört, wußten nichts Näheres, aber es interessierte Ava DuVernay sehr, denn das Erstaunliche ist einfach, daß bei völlig unterschiedlichen Charakteren von einzelnen, wie hier von Martin Luther King und Fritz Bauer, deren gesellschaftliche Funktion doch die gleiche ist: Tabus nicht nur anzusprechen, offen zu legen, sondern durch eigenes Handeln die Menschen selbst zum Umdenken und entsprechendem politischen Handeln zu zwingen. Sanft zu zwingen, denn der Unterlegene hat ja gar nicht die Macht des Zwingens, aber es gibt einen moralischen Zwang, einen politischen Zwang, Anschauungen und Gesetze zu ändern, weil durch das Handeln von Personen wie Martin Luther King und Fritz Bauer es unanständig geworden ist, die alten Verfahren und Anschauungen beizubehalten und auch noch zu verteidigen.

 

Schauen wir uns die beiden Personen an. In SELMA wird Martin Luther King nicht als der Revolutionär gezeigt, der er auch nicht war, sondern als grüblerischen, die Folgen fürchtenden Zauderer, der das Richtige im Herzen und im Verstand dennoch mit seiner Führungsrolle hadert – und dann gleichzeitig wie selbstverständlich entschlossen handelt, als er spürt – immer in Übereinstimmung mit seinem Gott - , daß es jetzt sein muß, Gesicht zu zeigen, auf die Straße zu gehen, die Brücke nach Selma zu überqueren. Daß erstmals fünfzig Jahre nach dem Durchsetzen des Wahlrechts für Schwarze dieser historische Moment des Marsches auf Selma in einem Film aus Hollywood zum Thema wird, kann man angesichts seiner historischen Bedeutung eigentlich nicht verstehen. Aber man braucht nur daran zu denken, daß die Befreiung der schwarzen Amerikaner, damals nur Nigger genannt, aus ihrem Sklavendasein noch viel länger gebraucht hat, bis sich Filme aus Hollywood dieses zentralen US-Thema annahmen und dann mit großem Aufwand Leinwandepen gestalteten, die prompt viele Oscars gewannen.

 

Und hier kann ein weiterer Vergleich mit Bauer gezogen werden. Als die Regisseurin Ilona Ziok ebenfalls auf der Berlinale, aber 2010, ihren Film vorstellte, bekannte sie danach: „Als wir den Film über Bauer begannen, gab es fast nur Absagen mit der Begründung, das würde niemanden interessieren und sei kein Thema. Bauers Credo war auch im neuen Deutschland im neuen Jahrtausend nicht gefragt, das lautet:

 

  1. NEIN SAGEN zu den Handlungen des Staates, die man nicht akzeptieren kann,

  2. Die Vergangenheit nicht zu vergessen, weil sie immer da ist und wieder Zukunft werden kann oder auch:

  3. Was Du nicht willst, das man Dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“

  4. Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Ilona Ziok betonte damals, daß sie damit nur die vier für sie wichtigsten politisch-ethischen Grundüberzeugungen Fritz Bauers wiedergebe.

 

Wir bringen das deshalb, weil Ava DuVernay sowie Ilona Ziok wohl doch zu früh kamen, zumindest, wenn sie Oscars hätte erhalten wollen, bzw. Ava DuVernay OSCARS und Ilona Ziok den DEUTSCHEN FILMPREIS. Es war ein Skandal, wie sehr bei der Oscar-Verleihung 2015 SELMA ausgespart blieb. Während Ilona Zioks Film in Deutschland zwar als besonders wertvoll eingestuft, aber von den Preisvergebern überhaupt völlig ignoriert wurde – aber auch so tourt er im sechsten Auswertungsjahr weltweit besonders erfolgreich - , war SELMA gerade mal für die Kategorien BESTER FILM und BESTER SONG für den OSCAR 2015 nominiert. Und dann bekamen ausgerechnet für die Musik John Legend und Common den einzigen Oscar für SELMA. Daß dann beim Singen des Titelsongs die Anwesenden in Rührung verfielen, konnte nicht vergessen machen, daß der eindrucksvolle Hauptdarsteller des Martin Luther King, David Owoleyo, noch nicht einmal nominiert worden war. Übrigens waren bei den Darstellernominierungen überhaupt nur Hellhäutige benannt worden. Das fällt dann beim Auslassen von SELMA erst so richtig auf. Und eben auch, daß es peinlich für Hollywood ist, wenn bei einem so politischen Film allein die Musik ausgezeichnet wird.

 

Wir wollen nicht abkommen, sondern nur den Finger in die Wunde legen, was zudem Deutsche nicht so wissen können, daß nämlich das Thema RASSENGLEICHHEIT für die USA kein historische Erledigtes ist, auch wenn ihr Präsident ein Schwarzer wurde. Und wir wollen auch zurück zum Vergleich King und Bauer, was aber erst einmal die Schilderung der amerikanischen Situation Anfang 1965 bedingt. Der 1929 in Atlanta als Michael King Geborene hatte am 11. Dezember 1964 in Oslo den Friedensnobelpreis erhalten. Dies galt seinem Engagement für soziale Gerechtigkeit, wohinter sich sein Einsatz für das Civil Rights Movement verbirgt. Das ist die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung, später mit der Hymne WE SHALL OVERCOME charakterisiert, wo Kings spezielle Note der zivile Ungehorsam als Entgegnung auf die faktische Rassentrennung und Verweigerung der Staatsbürgerrechte im Süden der USA wurde.

 

Faktisch deshalb, weil es längst ein Wahlgesetz gab, daß die schwarzen Bürger gleichberechtigt zur Wahl zuließ, aber die Ausführungsbestimmungen eine Eintragung in Wählerverzeichnisse vorsah, die im Süden einfach nicht vorgenommen wurde, so daß das Wahlrecht nicht ausgeübt werden konnte. Wie King nun mit dem mehrfach versuchten und dann erfolgreichen Marsch von Selma nach Montgomery den Nachfolger des am 22. November 1963 ermordeten US-Präsidenten John Kennedy, der ihm und dem gemeinsamen Anliegen noch sehr gewogen war, dann also auch Lyndon B. Johnson zum positiven Handeln zwang, das zeigt dieser Film, wobei die Gemeinsamkeiten mit der Situation von Fritz Bauer in der nachfaschistischen Bundesrepublik eben auch darin bestehen, daß auf theoretisch-abstrakter Ebene alle einig waren: Gleichberechtigung einerseits und Ende der Naziherrschaft andererseits, daß es aber praktisch immer hieß: langsam, vorsichtig, nichts mit öffentlichem Charakter, besser Verschweigen und Vergessen, als ans Licht ziehen und aufarbeiten, gar bestrafen.

 

Und wenn man sich das vergegenwärtigt, kommen einem bei einem Vergleich beider Filme, also SELMA und FRITZ BAUER-TOD AUF RATEN, auf einmal die Gedanken, daß es vordergründig wäre, die Helden der Geschichte, hie Martin Luther King, da Fritz Bauer zu vergleichen. Es geht beim Vergleich weitaus stärker darum, welche Gegner beide Männer auf den Plan riefen, welche Gegner mit welchen Mitteln die Menschenrechtsabsichten von King und Bauer verhindern wollten, lange verhindern konnten, dann aber von diesen beiden Kämpfern für die Menschenrechte schachmatt gesetzt wurden. Bei aller Verschiedenheit der Absichten, King wollte etwas durchsetzen, Bauer etwas Verschwiegenes ans Licht holen und die Öffentlichkeit und die Gerichte zwingen, sich mit den Ursachen der Völkervernichtung durch Hitler und die Deutschen zu beschäftigen, geht es um etwas Gemeinsames.

 

Es geht nämlich um vergleichbare Strategien zweier politischer Köpfe, die beide ihren Kampf mit dem Leben bezahlten. Martin Luther King wurde am 4. April 1968 im gewalttätigen Memphis, Tennessee, ermordet, der 1903 geborene Fritz Bauer starb am 1. Juli 1968 unter bis heute ungeklärten Umständen als Hessischer Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main, nachdem er mindestens zweimal die Geschichte der Bundesrepublik umgeschrieben hatte. Erst 1952 im sogenannten Remerprozeß in Braunschweig, wo er die bisher unbescholtenen Schergen wie Remer, die die Hitler-Attentäter vom 20. Juli 1944 verraten hatten und noch bis 1952 deren Gedenken in den Dreck zogen, zu Tätern machte und deren Opfer endlich als Widerstandskämpfer anerkannte – tatsächlich bekamen deren Witwen erst jetzt die Rente ihrer Männer.

 

Das war die persönliche Seite, aber die politische Brisanz der Verurteilung von Remer, war hochbedeutend: erstmals wurde der NS-Staat von einem (west)deutschen Gericht zum Unrechtsstaat erklärt. Damit war ein Pflock in der unmittelbaren Geschichte gesetzt, der nie mehr auszuhebeln war. Das zweite Mal schrieb Fritz Bauer Geschichte, als er, inzwischen als Hessischer Generalstaatsanwalt, von 1963-66 die Auschwitzprozesse initiierte. Übrigens am Rande, weil es auch um Filme geht. Der Film über den 2010 noch halbvergessenen Fritz Bauer von Ilona Ziok hat inzwischen seine Person wieder so in das allgemeine Interesse gerückt, daß derzeit der dritte Spielfilm über Bauer produziert wird. Im ersten ließ man mit dem Hinweis auf dramaturgische Überlegungen die Initiierung und Durchsetzung der Auschwitzprozesse einem jungen, in den Augen des Regisseurs wohl attraktiveren Staatsanwalt zukommen. Peinlich. Aber die Wirkung des erstmals thematisierten Massenmords an Juden und anderen in den KZs war so durchschlagend, daß fürderhin sich in Deutschland keiner mehr traute, von einer Auschwitzlüge zu sprechen, weil die Zeugen nachweisbar die Wahrheit sagten und somit dieser Prozeß die Naziverbrechen zum nicht mehr aufhaltbaren Thema in der Bundesrepublik machten.

 

Der Film von Ilona Ziok, der kein Spielfilm, sondern ein spannender, auf Spielfilmdramaturgie aufgebauter Dokumentarfilm ist, ohne diese oft peinlichen filmischen Nachstellungen historischer Ereignisse, den sogenannten Re-Enactements, über die Person Fritz Bauers hinaus in Aussagen von Zeitzeugen und von Fritz Bauer selbst überzeugend, wie die neue Bundesrepublik die alten Nazi-Seilschaften agieren ließ und umgekehrt diejenigen, die Demokraten waren, verfolgt und gedemütigt wurden, vor allem dann, wenn sie auf die Situation des bundesrepublikanischen Nachfaschismus hinwiesen oder – noch schlimmer – gar die Diktatur und die Verbrechen der Nationalsozialisten ansprachen und vor Gericht bringen wollten.

 

Und wenn man sich erst einmal mit den Gegnern der beiden Heroen King und Bauer im Kopf beschäftigt, dann findet man immer mehr, daß dies zwei Männer sind, die dasselbe wollten, nämlich die Würde des Menschen auf Erden zu garantieren, und die just auf dieselbe Art von Gegnern trafen, die wegen eigener Vorteile brandschatzten und mordeten. In Amerika trifft man auf diejenigen, die als weiße Rasse die schwarzen Mitbürger ignorierten und von deren Arbeit besser lebten, in Deutschland auf die, die ihre jüdischen Mitbürger ins Gas geschickt hatten, deren Besitz unter sich aufgeteilt hatten und dann noch nicht einmal, nachdem das nationalsozialistische System das ganze Deutschland in den Ruin getrieben und verkleinert hatte, diese Mörder, ach was Massenmörder vor Gericht stellen wollte.

 

Die ganze gemeine Wut ihrer Gegner haben diese beiden Männer auf sich gezogen, sie sind gleichermaßen moderne Märtyrer, das wird einem beim Weiterdenken klar, Märtyrer in dem Sinn, gegen mobilisierte Massen die Wahrheit zu fordern – und sie, jeder mit seinen Mitteln, durchzusetzen. SELMA hatte ich gerade gesehen, FRITZ BAUER-TOD AUF RATEN will ich sofort das xte-Mal wiedersehen.

 

Doch ein Wermutstropfen, nein, nicht beim Fritz Bauer Film, oder doch nur mit dem verfälschenden Bild, das die neuen Spielfilme von Bauer zeichnen, der Wermutstropfen gilt SELMA. Denn erst, wenn man sich noch einmal die historische Situation vor Augen führt, die Menschenkette in historischen Aufnahmen ansieht, an deren Spitze Martin Luther King mit seinen Mitstreitern schreitet, dann fällt auf, daß in der hervorragenden filmischen Darstellung einer fehlt: das ist der Rabbiner Joshua Abraham Henschel. Warum denn das?

 

Und wenn man dann nachliest, daß dieser aus dem Nazideutschland in die USA flüchten konnte und auch liest, wie viele Juden insgesamt in der Bürgerrechtsbewegung beteiligt waren, die auch deshalb erfolgreich wurde, weil viele hellhäutigen Amerikaner mitmarschiert waren, auf die so einzudreschen wie auf die Schwarzen die Polizei von Alabama sich dann doch leicht scheute, dann begreift man, daß auch SELMA ein Problem hat. Das wollen wir hier nicht vertiefen, aber doch auffordern, sich die originalen Bilder anzuschauen und den Protest der Tochter des „vergessenen“ unterschlagenen Rabbiners nachzulesen. Schade eigentlich.

 

 

http://www.tabletmag.com/tag/abraham-joshua-heschel/feed

 

http://www.algemeiner.com/2015/01/18/fresh-controversy-hits-selma-daughter-of-rabbi-abraham-joshua-heschel-shocked-by-exclusion-of-her-father-from-film/#

 

http://forward.com/culture/204080/when-we-marched-together-in-selma/

 

http://5tjt.com/fresh-controversy-hits-selma-daughter-of-rabbi-abraham-joshua-heschel-shocked-by-exclusion-of-her-father-from-film/

 

http://libertyunyielding.com/2015/01/18/selma-strikes-deleting-rabbi-heschel-religious-inspiration-selma-history-video/

 

https://www.google.de/search?q=susannah+heschel+on+the+movie+Selma&biw=1002&bih=421&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ei=JFGYVZDwA4az-wHdq6rQCA&ved=0CC8QsAQ&gws_rd=cr

 

 

 

P.S. In diesen Artikel sind viele der Gesprächsinhalte mit der Regisseurin von SELMA nach ihrer Pressekonferenz zur Berlinale 2015 eingeflossen. Sie wiederum war insbesondere an der deutschen Nachkriegssituation interessiert. Genau das war dann Thema der Veranstaltung in Harvard, wo die beiden Filme SELMA und FRITZ BAUER-TOD AUF RATEN vorgeführt wurden, was Irmtrud Wojak initiiert und durchgeführt hatte.

 

Unser Resümee: Für Martin Luther King war die Straße das Feindesland, das er mit seinesgleichen zu betreten wagte, der Einzelkämpfer Fritz Bauer brauchte dafür nur sein Büro zu verlassen. Zwei mutige Männer.

 

 

 

INFO:

 

FRITZ BAUER – TOD AUF RATEN

 

www. fritz-bauer-film.de

 

http://www.fritz-bauer-film.de/fbw.pdf

 

http://www.fritz-bauer-film.de/filmbewertungsstelle.pdf

 

http://www.fritz-bauer-film.de/FritzBauer_Stimmen_120518.pdf

 

 

 

SELMA

 

Der Film kam gerade am 2. Juli 2015 sowohl als DVD als auch als Blu-ray in den Handel. Sprachen sind Deutsch und Englisch. Die Untertitel sind Deutsch. Das Tonformat der DVD ist Dolby Digital 5.1, der Blu-ray DTS HD 5.1. Das Bildformat der DVD ist 2,40:1 (anamorph) und der Blu-ray 2,40:1 (1080p/24p Full HD).

 

Die Extras von DVD und Blu-ray sind (alle in Englisch mit deutschen Untertiteln):

  • Audiokommentar von Regisseurin Ava DuVernay und Hauptdarsteller David Oyelowo

  • Audiokommentar von Regisseurin Ava DuVernay, Kameramann Bradford Young und Cutter Spencer Averick

  • Making Of

  • Die Entstehung von Selma

  • Über das National Voting Rights Museum and Institute

  • Aus dem Archiv: Die Geschichte von Selma

  • 12 geschnittene und erweiterte Szenen (ca. 30 Min.)

  • Musikvideo "Glory"

  • Trailer

 

DVD und Blu-ray liegt ein lesenswertes 16seitiges bebildertes deutsches Booklet bei, das unter anderem folgende Themen anspricht:

  • Geschichte: Der Traum vom Wahlrecht

  • Könntest Du an der Wahl teilnehmen?

  • Die amerikanische Bürgerrechtsbewegung

  • Martin Luther King Jr.

  • Die Frauen von Selma

  • Die Märsche von Selma nach Montgomery - eine Chronik

 

Selma (Großbritannien, USA 2014)

Originaltitel: Selma

Genre: Drama, Biografie

Filmlänge: ca. 125 Min.

Regie: Ava DuVernay

Drehbuch: Paul Webb

Darsteller: David Oyelowo, Tom Wilkinson, Tim Roth, Ophrah Winfrey, Common u.a.

Verleih: Studiocanal

FSK: ab 6 Jahren