Das Internationale Filmfestival von Locarno vom 5. bis 15. August, Teil 2

 

Kirsten Liese

 

Locarno (Weltexpresso) - Nicht ohne Widerstand gelang auch der israelische Film „Tikkun“ nach Locarno (Spezialpreis der Jury). Schweizer Filmemacher hatten gegen die Zusammenarbeit des Festivals mit dem vom jüdischen Staat finanzierten „Israel Film Fund“ protestiert, zwei tunesische Regisseure sollen ihre Filme sogar vom Festival zurückgezogen haben.

 

Carlo Chatrian und die Jury unter dem Vorsitz von Udo Kier ließen davon nicht beeindrucken. – Zum Glück: Selten gab sich das israelische Kino so subtil, komplex und selbstkritisch.

 

Tikkun“ spielt im Milieu der Ultra-Orthodoxen. Haim-Aaron, ein Intellektueller, dessen Talent und Frömmigkeit von allen bewundert wird, erleidet eines Tages nach dem Fasten einen beinahe tödlichen Schwächeanfall. Seinem Vater gelingt es, ihn zu reanimieren, aber für den Studenten ist plötzlich alles anders. Er erlebt ein Erwachen seiner Sexualität, ringt fortan mit seinem Glauben und wagt den Kontakt zur Außenwelt. Avishai Sivan schildert diese Entwicklung mit sensiblem psychologischem Gespür, wenn bisweilen auch eine Spur zu melodramatisch, macht aber mitnichten Israel-Propaganda, wie ihm die Protestierenden vorwerfen, sondern rüttelt an den Traditionen.

 

Die größte Aufmerksamkeit in Locarno erhielt freilich ein Schweizer Beitrag zur aktuellen Flüchtlingskrise, es war zugleich der einzige deutschsprachige im Wettbewerb: „Heimatland“ zeigt die Schweiz im Angesicht einer drohenden Apokalypse. Eine gefährliche Wolke hängt über den Alpen, ein gewaltiger Sturm braut sich zusammen. Panik breitet sich aus, die Menschen konkurrieren um Ressourcen, werden zu Flüchtlingen und stehen am Ende verdattert vor der Grenze, weil die EU Zäune baut und niemanden mehr hereinlässt. „Heimatland“ ist allemal ein diskussionswürdiger, provokanter Film, leider aber kein besonders guter. Es gibt viel zu viele Personen darin, vor allem unterstellen die zehn beteiligten Regisseure klischeereich, dass alle Schweizer fremdenfeindlich sind und deshalb eine ordentliche Lektion verdienen. Auf der Flucht erweisen sich Migranten vom Balkan gegenüber einem reichen egoistischen Single-Schweizer als die besseren Mitmenschen. Deshalb dürfen sie als einzige die Grenze überqueren. Die „bösen Schweizer“ müssen draußen bleiben.

 

Und wie in diesem Film versammelt auch der georgische Altmeister Otar Ioselliani in einem schier überbordenden Opus zu viele Figuren. Zwar intelligent und mit unverkennbar bizarrem Witz fantasiert er in seinem „Chant d’hiver“ über Krieg, Armut und Rebellion, doch verliert er inmitten von plündernden Soldaten, Rollschuh fahrenden Strolchen, Clochards und Musikanten, Assoziationen und Fußnoten den roten Faden.

 

Der Kontrast zum Gewinner des Goldenen Leoparden könnte kaum größer sein: Mit „Right Then, Wrong Now“ prämierte die Jury unter dem Vorsitz von Udo Kier ein minimalistisches, leises, dicht inszeniertes Kammerspiel, das aus Südkorea kommt, aber stark im europäischen Kino wurzelt.

 

Hong Sang-soo erzählt eine denkbar simple Geschichte: Ein Mann und eine Frau machen in einem Tempel Bekanntschaft. Er ist ein namhafter Filmregisseur, sie eine freischaffende Künstlerin. Wie die beiden den Tag miteinander verbringen, miteinander reden, in einem Café, in einer Sushi-Bar und bei Freunden, ist von einer Leichtigkeit und einem Charme, der an den Franzen Eric Rohmer erinnert. Einen glücklichen Ausgang nimmt die Romanze gleichwohl nicht, er ist verheiratet. Nach einer Stunde beginnt die gleiche Geschichte noch einmal von vorn mit kleinen , aber bedeutsamen Abwandlungen. Diesmal hören sich die Verliebten noch besser zu, reagieren sensibler aufeinander, reden ehrlicher miteinander, geben sich bescheidener, wählen geschickter ihre Worte und gehen liebevoller miteinander um. Zu schade, dass sie trotzdem kein Paar werden können, aber es stimmt irgendwie versöhnlich.

 

Dass ausgerechnet Lars Kraumes Drama „Der Staat gegen Fritz Bauer“, der das deutsche Kino einmal von starker Seite repräsentiert, seine Weltpremiere nicht im Wettbewerb, sondern auf der Piazza Grande feierte, war freilich ein wenig schade. Immerhin gewann die bewegende Geschichte des Hessischen Staatsanwalts, der nach dem Zweiten Weltkrieg als erster deutscher Jurist konsequent gegen ehemalige Nazi-Verbrecher vorging, den begehrten Publikumspreis UBS.

Foto:Burghart Klaußner als Fritz Bauer