Das Internationale Filmfestival von Locarno vom 5. bis 15. August, Teil 1

 

Kirsten Liese

 

Locarno (Weltexpresso) - Es gehört Mut dazu, gleich mehrere spröde, kryptische oder auch sehr langsam inszenierte Geschichten im Wettbewerb zu zeigen. Carlo Chatrian hat sich schon im vergangenen Jahr für das anspruchsvolle Autorenkino als künstlerischer Leiter in Locarno sehr stark gemacht.

 

In diesem 68. Jahrgang mutet er dem Publikum bisweilen etwas zuviel zu, aber das verzeiht man gerne angesichts einiger sehr kostbaren Entdeckungen.

 

Insbesondere das „No Home Movie“ der 65-jährigen Chantal Akerman, das sich in langweiligen Alltagsverrichtungen und hohlen Gesprächen ergeht, oder die in Saõ Paulo angesiedelte Vater-Sohn-Geschichte „O Futebol“, die kaum etwas zu erzählen hat, strapazieren die Geduld.

 

Wiederum andere Filme erscheinen nicht so leicht verständlich, wecken aber trotzdem Faszination, weil sie geheimnisvoll an Dinge rühren, die tief ins Unbewusste zielen. Die mit dem Fipresci-Kritikerpreis ausgezeichnete „Suite Armoricaine“ aus Frankreich ist so ein Film. Herrliche Naturlandschaften, das paradiesische, von alten Malern imaginierte Arkadien und kontrastreiche Klänge verbinden sich hier mit teils rätselhaften Figuren, deren Befindlichkeiten nur angedeutet werden, zu einer reizvollen eigentümlichen Komposition.

 

Aber kein anderer Film ging so zu Herzen wie die traurige Geschichte um einen kleinen Büffel namens Sarchiapone. Sein Leben war fast schon zu Ende, als es gerade angefangen hatte, allein ohne Mutter in einem engen, dunklen Kerker. Doch plötzlich findet er sich unverhofft in einer herrschaftlichen, verfallenden Residenz wieder, wo ihn ein Hirte mit der Flasche aufzieht. Als sein Retter stirbt, begibt sich der stumme Diener Pulcinella mit dem prächtigen Tier auf eine lange Reise durch das schöne und verlorene Italien, bringt seinen kleinen Freund am Ende aber doch wider Willen in Gefahr.

 

Regisseur Pietro Marcello bohrt den Stachel tief in das schlechte Gewissen eines jeden Fleischessers. Aber „Bella e perduta“, ausgezeichnet mit dem „Premio della Giuria dei giovani“, ist nicht nur ein bemerkenswertes politisches Pamphlet aus einem Land, in dem sich nur wenige Menschen vegetarisch oder vegan ernähren, sondern dank Kunstfiguren, halb-surrealen Bilderwelten und Aufnahmen von großer Schönheit auch die denkbar zärtlichste Liebeserklärung an die geschundene, lobbylose Kreatur. Sarchiapones traurige Augen wird man so schnell nicht vergessen.

 

Wie Marcello steht auch der iranische Regisseur Sina Ataeian Dena noch am Anfang einer vielversprechenden Karriere. Sein Beitrag „Paradise“, der subversiv die frauenverachtenden Zustände an einer Grundschule in einem trostlosen Vorort von Teheran aufzeigt, erinnert an preisgekrönte Werke seiner berühmten Landsmänner Abbas Kiarostami oder Jafar Panahi. Der Mut zum Risiko gehörte freilich auch dazu, entstand der Film doch selbstredend ohne Bewilligung der iranischen Zensurbehörde. Zudem zeigt Dena nicht nur die Frauenverachtung der Staatsgewalt, sondern auch Anflüge von Rebellion: Trotz drakonischer Strafen riskieren es die Schülerinnen immer wieder, sich Vorschriften zu widersetzen. Man könnte eine gewisse Aufbruchstimmung aus solchen Momenten herauslesen, vielleicht sogar die Hoffnung, dass sich die Frauen mehr und mehr gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzen, wäre da nicht die Protagonistin, eine stets melancholisch drein schauende, erschöpfte Lehrerin. Sie strahlt nur Resignation aus.Fortsetzung folgt.

Foto: Der Gewinner des Goldenen Leoparden Hong San-soo