Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. September 2015, Teil 1

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) - Dicht an dicht drängen sich die Demonstranten auf ihrem Unabhängigkeitsplatz. Inbrünstig stimmen sie ihre Nationalhymne an, singen Lieder, wärmen sich und beschwören den Zusammenhalt ihrer Nation.

 

Sergej Loznitsa dokumentiert in seinem jüngsten Film die Ereignisse der drei Monate währenden, dramatisch eskalierenden Revolution in Kiew, die im November 2013 begann, als sich das Volk versammelte, um den Rücktritt seines Staatsoberhaupts Janukowitsch zu fordern. Aber anders als die Autoren üblicher Fernsehreportagen nimmt er sich lange Zeit, seine Zuschauer in die von Stolz, Aufbruchstimmung und Solidarität bestimmte Atmosphäre hineinzuziehen.

 

Er beobachtet den Revolutionsalltag mit vielen scheinbar unspektakulären Details und langen, ruhigen, unkommentierten Einstellungen. Wir erleben die Aufständischen wie sie sich versorgen, Suppenküchen organisieren, Plakate malen, Zeltlager errichten und feiern, angefeuert durch Geistliche und Intellektuelle, die im Hintergrund von einer entfernten Bühne das ungerechte System anklagen.

 

Die Kamera zeigt die Akteure stets aus der Distanz in streng kadrierten Totalen. Aber sie wechselt nie von der Seite der Protestierenden auf die der Polizei. Darin zeigt sich der subjektive Blick des Filmemachers, der als Ukrainer mit seinen Landsleuten sympathisiert.

 

Die erste Phase der Rebellion findet dabei ebenso viel Raum wie die dramatischen Straßenkämpfe und die finale Totenklage. Als der Platz geräumt werden soll, kommt es zu Krawallen. Tränengas, Brandsätze, Pflastersteine und Panzerschilder kommen zum Einsatz, die Gewalt greift immer mehr um sich. Starke Rauchschwaden legen sich über die Bilder, das Szenario avanciert zu einem Inferno, das mit einer Fülle an Figuren so schaurig wirkt wie die sechshundert Jahre alten Höllenvisionen des Malers Hieronymus Bosch. Aber auch mit einer Dramaturgie, die an antike Tragödien erinnert und einem authentischen Ton, der ohne einen künstlichen Soundtrack auskommt, empfiehlt sich diese Chronik als anspruchsvolle Filmkunst.