Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 24. September 2015, Teil 4
Konrad Daniel
Köln (Weltexpresso) – Die schwedische Regisseurin Sanna Lenken nimmt sich in ihrem Debüt der Jugend an und eines Themas, das immer wieder öffentlich hochkocht, wenn ein Skandal oder ein Tod daraus wird, womit aber die Familien alleingelassen sind, wenn es sich dort äußert: Magersucht.
Was man sich eben auch fragt, das ist, warum diese Thematik heute in der westlichen Welt als Verhalten von vorwiegend jungen und vorwiegend Frauen so gehäuft auftritt. Die landläufigen Erklärungen sind schnell zu Hand: Verweigerung der Frauenrolle, Verweigerung des Erwachsenwerdens, Verweigerung...und früher, als auch bei uns Menschen unter Hunger litten, da gab es die Probleme von Fressen und Kotzen oder Nichtessen nicht? Ja, da gab es sie nicht oder nur in unwesentlichem Umfang. Damals wurde dafür jeder Frau, die nicht 0815 sein wollte, von ärztlicher Seite Hysterie diagnostiziert. Wie gibt es denn das, was Freud noch in Bewegung setzte, die Psychoanalyse zu begründen, daß das verbreitetste Frauenleiden des 19. Jahrhunderts heute nicht mehr vorhanden ist.
Sie merken vielleicht, worauf ich hinauswill. Jede Zeit hat ihre speziellen Krankheiten. Und eine individuelle Heilung setzt immer einen anderen Zusammenhang und die Heilung dieser Probleme voraus. Diesen Gesamtzusammenhang muß man im Blick haben, wenn man sich völlig auf ein Einzelschicksal einläßt, was die Regisseurin einerseits behutsam und andererseits konsequent tut. Worum es geht? Da ist die zwölfjährige Stella, was ja auf Lateinisch Stern bedeutet, ein vor allem in England häufiger Mädchenname, der Rebecka Josephson eine so plastische, eine so überwältigende Leinwandpräsenz gibt, daß man einfach staunt, sich auch freut und dann an den Sieg der Gene glaubt, wenn man hört, daß sie die Enkelin des durch seine Bergmanfilme auch bei uns angesehenen Erlander Josephson ist. Diese Bestätigung der Gene sind deshalb wichtig, weil wir eher Vertreter der Umwelt- und Erziehungstheorie sind.
Dieses Mädchen wird in eine überfordernde Situation gebracht. Sie selbst ist eher Normalniveau und muß ständig hören, wie ihre schöne, kluge Schwester Katja genau immer das so wunderbar macht, wo sie schon im Ansatz scheitert: beispielsweise beim Eislaufen. Eine Pirouetten drehende Eisprinzessin die eine, ein Elephantenbaby die andere. Nur die kleine Schwester weiß, daß sich Katja ihre Brillanz und auch ihre Superfigur teuer erkauft: Bulimie. Das ist schlicht Heißhunger, der befriedigt wird, unmäßig sogar, bis das Gegenteil eintritt, das Ekelgefühl und man sich des Gegessenen schnell entledigen muß durch Übergeben des soeben noch Genossenen. Daß manche dies sogar rational als Schlankheitsmethode über den Kopf regulieren, ist eine andere Seite dieser wirklichen Krankheit, weil sie eben nicht mit dem Kopf, sondern von tief drinnen in Gang gesetzt wird.
Stella ist völlig verschreckt, als sie vom oft tödlichen Ausgang dieser Krankheit hört und will Katja helfen, doch die will keine Hilfe und erpreßt die kleine Schwester, sie würde, käme nur ein Wort den Eltern zu Ohren, allen erzählen, wie verliebt sie in ihren Eiskunstlauflehrer sei. Wer sich an Kindheit und Jugend erinnert, der absolute Supergau, das Peinlichste von der Welt, wenn so was dem Angebetenen zu Ohren kommt. Oberpeinlich eben.
Der Film zeigt, wie eine ganze Familie paralysiert wird, wenn ein Teil 'nicht funktioniert', was passiert, wenn eine Person im nahen und weiten Sinne erkrankt, wie alle Reaktionen der Familienmitglieder die gesamte Familie krank machen.
Der Film hatte im Jugendprogramm der Berlinale 2015 den Gläsernen Bären gewonnen. Im besten Sinne ein Familienfilm ist STELLA, wobei er natürlich gerade für die ohne Familienanhang viel Neues bringt