Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. Dezember 2015, Teil 1

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Die Bilder bleiben im Kopf, die Jacques Audiards Film, der in Cannes die Goldene Palme gewann, in den Farben intensiv und verschwenderisch auf die Leinwand bringt, und die auch den gesichtslosen, heruntergewirtschafteten Hochhäusern eine Farbigkeit verleiht, die im Gegensatz zu ihrer sozialen Endstation stehen, die sie für die Bewohner bedeuten.

 

Hinzu kommt, daß der Regisseur mit der Schärfe spielt und wir oft Farbiges sehen, ohne es zu erkennen, weil erst die Scharfeinstellung sowohl Form wie auch Funktion sichtbar machen. Erst recht, wenn die Gegenstände außerhalb unser Alltagserfahrung stehen, wie es im Urwald von Sri Lanka der Fall ist, wo das Grün so was von Grün ist. Vielleicht fällt darum die sterile Welt dieser Randsiedlung im Süden Frankreichs, einem typisch französischen Ausländerghetto so auf. Denn auch diese segregierte Welt, in der Jugendliche aus aus Nordafrika stammenden Familien nicht nur den Ton anstimmen, sondern diese Kleinwelt beherrschen, auch solche Bilder kennen wir aus Deutschland eher nicht.

 

Alles andere schon. Der Film sticht mitten ins Herz dessen, was derzeit als Flüchtlingsdrama sich täglich vor unseren Augen abspielt. Nur, daß diejenigen, die hier im Film nach Europa, nach Frankreich kommen, von sehr viel weiter her ihre Reise angetreten haben. Sie kommen aus Sri Lanka. Dort hat jahrzehntelang die Rebellion der Tamilen und der staatliche Gegenterror das Land verstört, die Leute dezimiert und viele zur Flucht getrieben. Wir werden Mitwisser von dreien, die sich auf geordnete Weise als Asylanten auf den Weg nach Europa machen.

 

Interessant, daß der Hauptdarsteller Dheepan, so heißt im französischen Original auch der Film, daß dieser Antonythasan Jesuthasan selbst Kindersoldat bei den Tamil Tigers war, den Bettel hinschmiß, floh, in Frankreich zum Schriftsteller wurde und hier seine zweite Kinorolle sehr bravourös bewältigt. Die stoische Geduld und der Blick, der von vielen Wunden erzählt, machen diese Figur zum Dreh- und Angelpunkt des Films, der eigentlich keine Botschaft hat als die eine: daß so zu leben keine Zukunft hat. Keine individuelle und keine gesellschaftliche. Der Film ist jedoch mehr eine Beschreibung der Welt, denn eine Analyse oder sogar Kampfaufruf.

 

Das alles beginnt in Sri Lanka, wo Dheepan seine Uniform verbrennt und herankommt an die Pässe einer Familie, die getötet wurde, aber ein Visum für Frankreich hatte. Auch Yalini (Kalieaswari Srinivasan) will weg, in ihrem Paß ist die Tochter eingetragen, die die beiden nun brauchen und in Illayaal auch finden, einer Waise. Diese drei einander Unbekannten müssen nun noch in Sri Lanka eine Familie vortäuschen, was gelingt und für ihr Exil in Frankreich dann viel leichter zu schauspielern ist. Schon durch ihre Fremdheit sind die drei eine Einheit. Ihr dunkleres, indisches Aussehen läßt sie dann auch in dem Hochhausgefüge, wo Dheepan Hausmeister wird, von den übrigen Bewohnern, die bis an die Schmerzgrenze aus Nordafrika stammen, abstechen.

 

Das sind tolle Geschichten, die wir in Wort und noch mehr Bild erfahren, wodurch das Fremdsein mit hiesigen Gebräuchen und Verfahren aufgezeigt wird. Eine so einfach Sache wie das Sortieren von Briefen in das Briefkastensystem eines Hochhauses ist schon ein gewagtes Unterfangen. Erstens setzt es Lesen voraus, das ist aber nicht das Problem, sondern, daß die 'Mutter', die ihrem Mann hilft, die Briefe zwar nach dem ABC, aber nach den Vornamen in die Kästen wirft. Übrigens logisch, denn die stehen auf den Umschlägen vorne zuerst, die Vornamen. Diese Szene kann man am besten weitererzählen, es gibt davon aber viele, die uns Zuschauern andeuten, wie gewaltig das Lernen sein muß, um sich in der neuen Umwelt behaupten zu können.

 

So erleben wir den Stolz mit, wie nun die 'Ehefrau' eine Stelle im Nachbarhaus erhält, sie soll für 500 Euro einem alten Mann das Leben in der eigenen Wohnung möglich machen, kochen, putzen etc. Allerdings trägt sie auf einmal Kopftuch. Warum? Weil so viele Muslime dort leben? Das ist unsere Erklärung, der Film vermittelt sie nicht, weil er den Druck der Jugendgang, die das dortige Leben kontrollieren, nur zeigt, aber nicht inhaltlich hinterfragt. Wir erleben diesen Druck mit und sehen wie das alte Gesetz vom Druck und Gegendruck auch hier wirkt, denn aus dem, was man so Schicksalsgemeinschaft nennt, wenn drei völlig Fremde eine Familie simulieren, was ja eine Zwangsfamilie ist, treten dann beim Zusammenleben aber alle die emotionalen Bedürfnisse der einzelnen auf, die in Familien gelebt werden dürfen: Liebe und Vertrauen. Am stärksten läßt dies die Jüngste spüren, die von den neuen Eltern das einfordert, was jedes Kind von seinen Eltern braucht. Aber auch die tastenden Versuche der Ehefrau, ihrem Mann eine Frau zu werden gehören dazu.

 

Der Film entwickelt sich auf einmal noch in eine andere Richtung, dabei haben wir mit dem Bewältigen des Gesehen schon erst mal genug zu tun. Was wir sehen, ist die Hoffnung, die man sich in Sri Lanka als Beispiel auf ein Leben in Europa macht. Wir sehen die Erkenntnis, daß in dieser neuen Welt Machtstrukturen da sind, die Freiheit verhindern, die wieder einmal von Männern organisiert und terrorisiert werden. Wir sehen schließlich auch, daß nichts im Leben von Höheren Mächten vorherbestimmt ist. Auch in schwierigen Situationen kann sich der Mensch entscheiden. Er wird nicht zwangsläufig zum Verbrecher, wenn er in einer abgehalfterten Hochhaussiedlung wohnt. Er kann auch einen anderen Weg einschlagen. Das Individuum ist viel stärker und sich auch stärker verantwortlich, als wir ihm normalerweise Raum im eigenen Leben geben.