Aus Anlaß des Anlaufens von HEIDI, dem neuen Film: Film, Buch (Johanna Spyri) und TV-Serie auf DVD im Überblick, Teil 1

 

Felicitas Schubert

 

Zürich (Weltexpresso) – Wir hatten schon bei der Filmkritik vom 10. September, als der neue Film HEIDI anlief, sehr viel zum Film berichtet. Das soll ein Interview mit dem Regisseur abschließen, worauf ein Vergleich der Bücher kommt, in denen das Original der Johanna Spyri mehr oder minder bearbeitet ist. Die Fernsehserie, die auf DVD vorhanden ist, darf nicht fehlen. Die Redaktion

 

 

Warum wir das machen? Weil HEIDI nicht nur ein KLASSIKER ist, sondern weil in dieser um 1880 öffentlich gewordenen literarischen Figur bis heute Sprengkraft wohnt. Dabei ist das Besondere wirklich, daß sich Mädchen heute sehr viel mehr rausnehmen dürfen als damals, aber selten hat ein kleines Mädchen die Welt bezwungen so wie Heidi, weil sie im Verbund mit bestimmten Erwachsenen ihr Ziel erreichte: frei zu leben, wo sie will und mit wem sie will.

 

Das hat auch der Regisseur betont „WIR NEHMEN DIE ZEIT ERNST UND WIR NEHMEN DAS BUCH ERNST“ betont er, als er für das Presseheft Fragen beantwortet. Leider wissen wir nicht, wer die umfassenden Fragen stellte, auf die Alain Gsponer souveräne Antworten fand.

 

 

Heidi“ ist ein auf der ganzen Welt bekannter Stoff, der bereits mehrfach verfilmt worden ist. Waren Sie sofort mit an Bord, als man Ihnen die Regie angeboten hat?

 

Als mir der Film angeboten wurde, habe ich mir viele Gedanken gemacht. Die Marke „Heidi“ wurde oft missbraucht, und ich habe mich gefragt, ob man wirklich noch einen Film machen sollte. Ich habe erst einmal wieder die Romane von Johanna Spyri gelesen und war – vor allem vom ersten Roman – extrem angetan. Da steckt so viel drin. Es ist ein richtig starkes Sozialdrama. Ausschlaggebend bei meiner Zusage war auchmein Vater, der zu mir sagte: „Denk’ dran, das ist kein Kinderstoff. Es ist ein Erwachsenendrama.“ Man muss dazu sagen, dass mein Vater als Kind auch Ziegenhirt war und wie der Geißenpeter in den Bergen aufgewachsen ist. Er kennt diese Armut und weiß, was die Hintergründe sind in Spyris Buch. Für ihn war „Heidi“ deshalb nie ein Kinderbuch, sondern das Drama eines Waisenkindes.

 

 

Welches Verhältnis hat man als Schweizer zu „Heidi“?

 

Ich ärgere mich wie gesagt über den Missbrauch von „Heidi“. Dieser Stoff ist etwas so Wertvolles und offenbart viel über die Schweiz. Zum einen erzählt er viel über Menschen und Enge. Er erzählt von Heidi, die eingesperrt wurde bei ihrer Tante Dete, die todunglücklich ist, nachdem ihre Eltern gestorben sind. Bis sie dann an diesen Ort in den Alpen kommt, wo sie in der Natur aufblühen kann. Dann haben wir jemand, der am gleichen Ort lebt wie sie, nämlich den Almöhi, dem es im Dörfli viel zu eng war, der aus diesem Ort weggehen musste, weil ihn die Bewohner nicht akzeptiert haben, und um überhaupt ein bisschen Raum für sich zu finden.

 

Und auf der anderen Seite gibt es Klara, die eingesperrt wird in ihrer Villa, die zwar riesig ist, aber trotzdem eine Enge ausstrahlt. Oder wir haben den Hausdiener Sebastian, der sich, als er Heidi zurückbringt, von den Alpen erdrückt fühlt. Es geht also immer um Enge und darum, einen Ort für sich zu finden. Das sind spannende und elementare Themen. Ich finde es bedauerlich, wenn man den Stoff herunterbricht auf das Schlagwort „Heidi und heile Welt“, was häufig passiert.

 

 

Was genau macht „Heidi“ zu einem zeitlosen oder gar kontemporären Stoff?

 

Eine Geschichte über das Ausbrechen aus der Enge und aus Zwängen, denen man ausgesetzt ist, und über die Suche nach dem Ort, an dem man sich entfalten kann, ist in meinen Augen zeitlos. Wie oft werden Leute irgendwo reingezwängt, wo sie nicht sein wollen, werden bestimmt von anderen Menschen und gesellschaftlichen Vorschriften. Das ist immer aktuell.

 

 

Inwieweit haben Sie sich in die Drehbucharbeit mit eingeklinkt?

 

Da ich zu einem sehr frühen Zeitpunkt für das Projekt angefragt wurde, habe ich die erste Fassung, an der ich nicht beteiligt war, schon sehr früh kommentieren können. Später entstand eine enge Zusammenarbeit mit Petra Volpe. Vieles, was mir bei diesem Stoff wichtig war, war bereits in der ersten Fassung des Buches enthalten, weitere Aspekte haben wir aufgenommen. Dabei waren mir auch kleine Details wichtig. Ich wollte thematisieren, was es heißt, in Armut zu leben, was die Ausgrenzung aus dem Dorf für Öhi bedeutet, was es heißt, Hunger zu haben oder wenn – wie beim Geißenpeter – ein Elternteil weg ist. Diese Details wollte ich ernst nehmen. Wir haben es auch sehr genau genommen mit dem Leben in der Villa in Frankfurt, wie die Riten am Tisch sind, dass der Bedienvorgang der reinste „Zirkus“ ist, dass das Besteck anders ist als heute. Außerdem fand ich es wichtig, bei den Szenen im Hause Sesemann aufzugreifen, dass man zu jener Zeit eigentlich wie eingesperrt lebte und relativ wenig an die frische Luft gegangen ist, auch die Kinder.

 

Stattdessen hat man die Natur zu sich ins Haus geholt. Die Tapeten von damals, die Stoffe – alles – bildete die Natur ab. Es sind immer Pflanzen, Bäume und auch Tiere drauf. Überall. Die nachgebildete Natur wird sozusagen zum Käfig in einer Villa. Diese gesellschaftlichen Abstufungen zu zeigen, war mir sehr wichtig.

 

 

Wie haben Sie sich auf den Dreh vorbereitet?

 

Ich habe mich in meiner Vorbereitung sehr stark mit den Motiven und Orten auseinandergesetzt und dort das Leben nachgespürt. Ich bin natürlich in die Alpen gegangen und habe versucht zu erleben, was es heißt, wenn man kein fließendes Wasser hat und Holz sammeln muss. Unsere Familie hat eine Berghütte im Wallis, in einer Region, die mittlerweile zum UNESCO-Weltnaturerbe erklärt wurde und 1904 gebaut wurde. Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die genau wissen und sich erinnern, wie das Leben auf der Alm war. Zu meinem Glück konnte ich vieles direkt in meiner Verwandtschaft erfragen. Zwar ist das Wallis nicht das Bündner Land, aber die meisten Dinge – wie man mit Geißen umgeht, wie das Melken funktioniert, was mit der Milch gemacht wurde – waren auf den Almen ja ähnlich. Ich habe lange und sehr intensiv recherchiert.

 

Gleichzeitig hat mich auch die Gründerzeit in Deutschland fasziniert, zum einen, weil ich selbst in einem Gebäude aus jener Zeit wohne, zum anderen, weil mich die Architektur sehr interessiert

hat. Und ich habe festgestellt, so wie wir heute in diesen tollen Altbauten in den Großstädten wohnen, hat das gar nichts mehr mit früher zu tun. Man hat zum Beispiel früher diese riesigen Fenster in den hohen Räumen alle zugehangen mit dunklen Vorhängen. Ich bin zu Recherchezwecken in Gebäude gegangen, in denen man noch in etwa nachvollziehen konnte, wie das Leben war in diesen Räumlichkeiten Ende des 19. Jahrhunderts. Ich wollte das damalige Leben spüren. Sehr interessant fand ich das pittoresk-studiohafte der Häuser.

 

 

Wie leicht war es, die passenden Drehorte zu finden?

 

Außer Maienfeld, Bad Ragaz und Frankfurt sind keine weiteren Orte in den Romanen von Johanna Spyri verbrieft. Die Almhütte wird „ob Maienfeld“ beschrieben, also oberhalb von Maienfeld. Das kann vieles sein. Wir mussten also Ortschaften und eine Hütte finden, die der Vorstellung dieser Abgeschiedenheit entspricht, wie sie im Buch beschrieben wird. Das gibt es in der Schweiz nicht mehr ohne weiteres. Wir haben extrem lange suchen müssen. Das Dorf Latsch, das wir gewählt haben, war das gleiche Dorf wie in der Verfilmung von 1952.

 

Für die Szenen in Frankfurt mussten wir in die neuen Bundesländer ausweichen, weil das heutige Frankfurt die Kulisse einfach nicht mehr hergegeben hätte. Historische Aufnahmen von damals haben gezeigt, dass das Stadtzentrum sehr von Fachwerkhäusern geprägt war und ziemlich ghettohaft und dreckig war. In den Bereichen außerhalb entstanden die damaligen „Neubauviertel“, wo die Familie Sesemann residiert, diese waren bedeutend herrschaftlicher und sauberer. Diese Kontraste haben wir gesucht. Da war Quedlinburg für das Stadtzentrum und Halberstadt für das neue Gründerzeitviertel perfekt. Die Villa Sesemann haben wir in Altenburg gefunden.

 

Sie haben viel Wert auf das Szenenbild gelegt.

 

Wir mussten Räume schaffen, wie es sie nicht mehr gibt. Der größte Schock für mich war zu realisieren, dass es in der Schweiz kaum eine Alm mehr gibt, wo nicht alles elektrifiziert ist. In den Schweizer Alpen wimmelt es nur so vor Stromtrassen. Wir haben keine einzige Alm gefunden, wo nicht Strommasten im Hintergrund zu sehen waren und auch um unseren Bergsee standen überall Masten. Die haben wir alle im Nachhinein wegretuschiert. Die Almhütte, die wir hatten, war auch nicht mehr im Originalzustand. All diese geschichtsträchtigen Hütten wurden immer wieder renoviert. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass die Almen oben nicht mehr bewirtschaftet werden. Wir mussten sie zugänglich machen, Wege trampeln und so weiter. Diese Welt zu erschaffen, habe ich als sehr speziell erlebt. Ebenso wichtig war es, die richtigen Bilder für dieses wunderschöne „Gefängnis“ in Frankfurt zu finden.

 

 

Was waren die größten Herausforderungen beim Dreh?

 

Das waren die „handfesten“ Dinge. Der Umgang mit den Tieren war eine extrem große Herausforderung, man kann eine Horde Geißen nicht trainieren. Die zweite große Herausforderung war, dass man ein Kind hat, das einen Film tragen muss, auf dessen Schultern sehr viel Verantwortung lastet und das man über einen sehr langen Zeitraum eng an die Hand nehmen und führen muss. Auch die Natur hat uns Streiche gespielt in der Schweiz. Wir haben im Sommer gedreht, also in der theoretisch wärmsten Zeit. Aber ich kann mich erinnern, dass es plötzlich über Nacht oben auf dem Berg geschneit hatte. Wir mussten also warten, bis der Schnee geschmolzen war und unsere Heidi musste dann im leichten Hemdchen draußen spielen, als wäre es warmer Sommer.

 

 

Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Bruno Ganz die Rolle des Almöhis übernimmt?

 

Wir wollten ihn haben. Ich habe mich also mit ihm getroffen, um zu schauen, ob wir zusammenpassen – für mich war es dann schnell klar, dass das was wird. Die Zusammenarbeit war etwas Besonderes. Bruno Ganz weiß sehr genau, wie er wirkt und wie er das nach außen trägt. Als wir ihn unlängst für die deutsche Kinofassung auf Hochdeutsch nachsynchronisiert haben, ist uns erst aufgefallen, wie wenig Text seine Rolle eigentlich hat. Das heißt, er muss sehr stark über Präsenz, über Wirkung, über Nichtstun funktionieren. Das braucht eine gewisse Selbstsicherheit, weil ja trotzdem was passieren muss auf der Leinwand. Diese Präsenz hat Bruno Ganz einfach. Das war toll, denn als Regisseur kann man diese Ausdruckskraft gar nicht wirklich inszenieren; das muss der Schauspieler mitbringen.

 

 

Nach Das kleine Gespenst zeichnete Niki Reiser auch bei HEIDI für die Musik verantwortlich.

 

Die Zusammenarbeit mit Niki Reiser war sehr eng. Er ist extra zu mir nach Berlin gekommen und hat neben meiner Wohnung einen Raum angemietet, um dort zu komponieren. Auch hinsichtlich der Musik sind wir extreme, starke Wege gegangen. Am Anfang wollten wir uns sehr auf Klänge der traditionellen Schweizer Volksmusik vor Ort konzentrieren, sind dann aber immer weiter davon abgekommen, weil diese Musik in Dur stattfindet. Und in Dur Heidis Emotionen zu übertragen, hat nicht funktioniert. Aber in Moll fing man an Heidi Sehnsucht zu spüren. Wir mussten uns also von unserer eher verkopften und konzeptionellen Herangehensweise verabschieden. Das Annähern an die richtige Musik war dann ein sehr langer Prozess.

 

Interessanterweise wurde mir von den Leuten in Graubünden am häufigsten gesagt: „Bei uns gibt es keine Dirndl und bei uns wird nicht gejodelt.“ Essenziell für unseren HEIDI-Film war, dass diese beiden Dinge nichtvorkommen. Genau das ist das Klischee, das die Leute dort am meisten hassen. Es ist ein total verkehrtes Bild. Heidi hat nichts mit Tirol oder Bayern zu tun. In diese Richtung wurde die Marke ,Heidi‘ aber eben oft missbraucht.

 

Wie setzt sich Ihr Film von den bisherigen Heidi-Verfilmungen ab?

 

Wir nehmen die Zeit ernst und wir nehmen das Buch ernst. Sicherlich entsteht bei unserem Film am Ende auch eine heile Welt, wenn Klara wieder laufen kann. Aber während der Geschichte zeigen wir eine gebrochene Welt, wie sie eben auch in Spyris Buch beschrieben wird. Wir sind wirklich zurück zu Johanna Spyris Büchern gegangen, haben die wichtigen Aspekte dieses universalen Themas herausgearbeitet und wollten auch zeigen, dass wir uns doch glücklich schätzen können, dass wir heute gewisse Dinge überwunden haben, die es damals gegeben hat, wie eben diese Armut oder die schwarze Pädagogik, die Fräulein Rottenmeier oder auch der Lehrer in der Schweiz praktizieren.

 

 

Was war denn bislang Ihr Lieblings-,Heidi‘-Film?

 

Ich habe als Kind drei Heidi-Verfilmungen wahrgenommen: Die Siebzigerjahre-Realserie, die Animeserie und den Schwarzweißfilm aus den 1950er Jahren. Seinerzeit war ich sehr unkritisch. Ich mochte sie alle!

Fortsetzung folgt.