66. Internationale Filmfestspiele Berlin (11. - 21. Februar 2016), Teil 23
Romana Reich
Berlin (Weltexpresso) – Was diese Überschrift bedeutet? Das sagt zum einen nur den Filmleuten, die zur Berlinale kommen, etwas, einschließlich der Kritiker von Filmen und dem Filmgeschäft, aber sie ist auch für all die Berliner oder diejenigen, die als Filmliebhaber extra zur Berlinale fahren, extrem wichtig: denn die Kartensuche muß sich ja an dem Angebot orientieren.
Das wissen noch immer nicht alle, daß die Berlinale in der Zeit des Wettbewerbs die allermeisten Kinokarten verkauft, die weltweit überhaupt auf einem Filmfestival verkauft werden, daß die Berlinale also zwar nicht das wichtigste Filmfestival der Welt, aber das mit den meisten Zuschauern ist. Jetzt sind also die Programme für die unterschiedlichen Sparten innerhalb von Panorama geschlossen und der erste Überblick zeigt große Präsenz für Lateinamerika und viele Filme aus Korea und China.
Die Programmauswahl: 51 Filme aus 33 Ländern wurden ausgewählt, davon 17 Panorama Dokumente und 34 Spielfilme in Hauptprogramm und Panorama Special. Davon sind 33 Weltpremieren, neun internationale und neun europäische Premieren. Zum 30. Teddy Award wird eine Jubiläumsreihe mit 17 Filmen stattfinden
Das Panorama-Hauptprogramm eröffnet am Donnerstag, den 11. Februar mit dem tschechischen Debüt Já, Olga Hepnarová von Tomas Weinreb und Petr Kazda. Der Film zeigt die Enge, in die eine junge Frau in der damaligen Tschechoslowakei getrieben ist und aus der sie sich mit einem verheerenden Befreiungsschlag zu erlösen sucht - und schließlich mit der dort bis 1989 geltenden Todesstrafe konfrontiert wird. Zwei weitere Filme zum Thema machen die Todesstrafe zu einem eindringlichen Schwerpunkt: Shepherds and Butchers aus Südafrika zur Zeit der Apartheid und die brasilianische Dokumentation Curumim über den Insassen einer Todeszelle in Indonesien.
Europe, She Loves, der Eröffnungsfilm der Reihe Panorama Dokumente, ist eine schweizerisch-deutsche Co-Produktion und untersucht die Befindlichkeiten heterosexueller Paare von Sevilla über Tallinn und Dublin bis Thessaloniki. Sie erstellt so ganz nebenbei - lakonisch, witzig, nachdenklich, sexy - eine Temperaturmessung des Patienten Europa.
Ein brennendes Thema bringt Rachid Boucharebs La route d’Istanbul ins Programm: Eine belgische Mutter versucht, ihre Tochter, die in den Dschihad gezogen ist, in Syrien zu finden und nach Hause zu holen. Bouchareb präsentierte bereits sechs seiner Werke in Berlin (fünf Spielfilme und ein Kurzfilm). Zuletzt war er 2014 mit Two Men in Town im Wettbewerb vertreten.
Aslı Özge zeigt nach Hayatboyu (Panorama 2013) ihren ersten deutschsprachigen Film Auf Einmal, in dem eine falsche Entscheidung die ganze Existenz eines jungen Mannes auf den Prüfstand stellt.
Starkes Debüt: Die dänisch-schwedische Co-Produktion Shelley von Ali Abbasi geht mit Genremitteln einem der diesjährigen Panorama-Themen nach: Babywunsch, hier verknüpft mit osteuropäischer Arbeitsmigration.
Dreimal Brasilien, zweimal Chile
Um Blutsbande versus Prägung und die Entdeckung eines Babydiebstahls geht es im brasilianischen Mãe só há uma: Die Regisseurin Anna Muylaert errang 2015 den Panorama Publikums-Preis für A que horas ela volta (The Second Mother). Den Kulturclash zwischen den Amazonas-Indio-Riten seines Herkunftstammes und dem selbstbestimmten urbanen Leben, das ihn anzieht, muss ein junger Mann in Antes o tempo não acabava ertragen. Der brasilianischen Menschenrechtlerin Yvonne Bezerra de Mello, vor 15 Jahren Protagonistin in Kriegerin des Lichts, stattet Monika Treut in Zona Norte erneut einen Besuch ab und erkundet die Entwicklung ihrer alternativen Pädagogik in der Arbeit mit Straßenkindern.
Zwei Filme aus Chile vervollständigen die diesjährige Lateinamerika-Auswahl: Alejandro Fernández Almendras beobachtet in Aquí no ha pasado nada (Much Ado About Nothing) Auswirkungen von Klassengesellschaft und Korruption auf eine Gruppe privilegierter Jugendlicher und im Erstling Nunca vas a estar solo (You'll Never Be Alone) von Alex Anwandter sucht ein Vater vergebens Rückhalt, wenn sein junger schwuler Sohn einem Hassverbrechen in der Nachbarschaft zum Opfer fällt.
Südkorea und China jeweils drei Mal
E J-yong, wiederholt zu Gast, erzählt in Jug-yeo-ju-neun Yeo-ja (The Bacchus Lady) die Geschichte einer leisen Heldin: Ihr Leben widmete sie den Männern und nun im Alter gar den Tod - doch war sie, im Rahmen des Patriarchats, selbstbestimmter und freier als es die Gattinnen ihrer Kunden je sein konnten. Vertiefende dokumentarische Einblicke in die koreanische Welt geben The Lovers and The Despot um das nach Nordkorea entführte Traumpaar des südkoreanischen Films und WEEKENDS, der die rasanten Fortschritte und Fallstricke der schwulen Emanzipationsbewegung aufzeigt.
Shanghai: Die dramatische Geschichte eines Babydiebstahls gibt in San Fu Tian (Dog Days) einen modern-intimen Einblick in das neue China der Mittelklasse - dieser rasant wachsenden Schicht, die im Dokumentarfilm Wu Tu den Gemüsebauern jeden Quadratmeter streitig und somit die Grundform der Gentrifizierung erlebbar macht. Das Babythema wiederum wird in Inside the Chinese Closet weitergetragen: Scheinehen und andere Gesellschaftskonstruktionen werden erfunden, um der konservativen Familienstruktur Genüge zu tun, ob die Beteiligten wollen oder nicht.
So geht es auch dem jungen Israeli in Who’s Gonna Love Me Now?, der nach London Reißaus nahm und wo HIV das Familienverhältnis weiter kompliziert - ein wenig beachtetes Thema in den letzten Jahren, das aber von mehreren Produktionen im Panorama 2016 aufgegriffen wird: Strike a Pose über die Tänzer von Madonnas legendärer Blond Ambition Tour gehört dazu, ferner Brüder der Nacht und Kiki, sowie die bereits gemeldeten Der Ost-Komplex, Uncle Howard, Mapplethorpe: Look at the Pictures und als Spielfilm Théo et Hugo dans le même bateau. Aids ist nicht aus der Welt!
Der Panorama Publikums-Preis wird zum 18. Mal gemeinsam mit radioeins für den besten Spiel- und Dokumentarfilm – 2015 wurden über 32 000 Stimmen abgegeben - am Berlinale Publikumstag: 2016 am 21. Februar, im CinemaxX 7 um 17:00 Uhr verliehen. Im Anschluß kommen die Gewinnerfilme zur Aufführung.
Zum vierten Mal wird der Heiner-Carow-Preis in Zusammenarbeit mit der DEFA-Stiftung zur Förderung der deutschen Filmkunst im Panorama an einen Dokumentar-, Spiel- oder Essayfilm vergeben. Im Anschluss an die Verleihung am 18. Februar wird um 17:00 Uhr Die Russen kommen von Heiner Carow (DDR 1968) im Kino International aufgeführt.
Das konkrete Programm in der Fortsetzung.
Foto: Já, Olga Hepnarová von / by Tomas Weinreb