Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 6

 

Claudia Schulmerich

 

Berlin (Weltexpresso) – Gleich müssen wir unsere bisherige Berlinaleeinschätzung korrigieren. Es geht nicht nur um Männer, in diesem französischen Film geht es fast nur um eine Frau, um die Philosophielehrerin Nathalie (Isabelle Huppert), die Ende 50 von ihrem Mann erfährt, daß er erstens eine andere kennengelernt habe und zweitens bei dieser einziehen werde. Regisseurin dieses Films ist die eine von den zwei Frauen, die im Wettbewerb dabei sind.

 

Wenn Sie jetzt glauben, hier würde das typische Ritual abgespult, wie nun diese Frau zusammenbricht, sich ausgenutzt und ausgehöhlt fühlt, was wir hier als Ritual bezeichnen, obwohl sich für die allermeisten dahinter handfeste persönliche Dramen verbergen, wenn Sie also glauben, hier müßten Sie jetzt Mitleid empfinden oder dergleichen und der Film ginge in eine solche Richtung, dann sind Sie falsch gewickelt. Nathalie hatte auf den ersten Satz ihres Mannes (André Marcon) erst einmal so reagiert: „Warum erzählst Du mir das?“ und auf seine Anwort mit dem Aus- und Einziehen hinzugefügt:“Und ich dachte, Du liebst mich für immer und ewig. War ich blöde.“

 

Das war's dann. Und im übrigen tut es ihr auch nicht um ihren Mann so richtig leid – „nicht schlimm, das Leben geht weiter“- sondern um das Haus in der Bretagne, das seiner Familie gehört, wo die Kinder aufgewachsen sind, jedes Jahr der Urlaub verbracht wurde und sie den Garten zum Blühen brachte. Und jetzt kullern auch Tränen. Richtig weinen wird sie später. Und lachen auch.

 

Wir erleben Nathalie als ihren Beruf ernst nehmende Lehrerin, die auch hier Klartext spricht, alles in allem eine Person ist, bei der Sprechen und Handeln eine Einheit bildet. Sie hatte sich einen Namen gemacht als Lehrbuchautorin, aber auch das geht den Bach runter, denn ihre textlastigen Lehrbücher sollen überarbeitet und der Text großenteils von Illustrationen - „wie bei Aldi“ - ersetzt werden. Sie ist ein Auslaufmodell. Für die anderen. Sie jedoch beschreibt ihre Situation einem ehemaligen Schüler (Roman Kolinka), der sich mit Gleichgesinnten in die Natur des Massivs von Vercors zurückgezogen hat, wo sie ihn besucht: „Mein Mann ist weg, meine Kinder auch. Meine Mutter ist tot. Ich habe meine Freiheit wieder. Zum ersten Mal.“

 

Nathalie ist nüchtern, ist Realistin und hat sich – das haben wir im Film verfolgt – mit ausdauernder Fürsorge um ihre völlig egoistische Mutter (Edith Scob) gekümmert, die dauernd die Feuerwehr ruft („Es reicht. Das dritte Mal diese Woche.), weil sie gleich stirbt. Doch, im Nachhinein merkt man erst, mit wievielen Vorgängen der Film ins Detail geht, die wir jetzt alle weglassen, weil es doch im Kern um das große Ganze geht: was tun mit Ende Fünfzig, was ja Anfang Sechzig ist, wenn das bisherige Leben, von dem man glaubte, es gehe immer so weiter, perdu ist?

 

Junge Leute heute würden vielleicht zu Nathalie sagen, sie sei cool, Ältere würden vielleicht ihre realistische Ader mit Kälte verwechseln und sie kühl nennen. Nein, das ist sie keineswegs, sie freut sich über ihr erstes Enkelkind von Herzen und macht den Kindern und dem Kindeskind ein so schönes Weihnachten wie nur gewünscht. Aber sie ist ein eigenständiger Mensch, hat sich auch vorher nicht über ihren Mann oder über die Mutterrolle definiert. Die Arbeit macht ihr Spaß und sie hat jetzt Zeit für mehr. Was das alles sein könnte, das wird sie für sich erst einmal herausfinden müssen. Wie es weitergehen könnte? Eine Frau, die nicht sofort auf der Suche nach einem neuen Mann ist, ist für das Kino ja auch einmal etwas Neues. Also schau'n wir mal, wie Nathalie im neuen Leben zurecht kommt, das aus Freiheit besteht, wo zwischendrinnen Einsamkeit immer ein notwendiger Begleiter ist.

 

P.S.

1. Tatsächlich gäbe es eine Menge weiterer Details anzusprechen, von den erwähnten Philosophen bis in die Musik hinein, die im Film immer wieder dramaturgische Funktion übernimmt. Ihrem Mann attestiert Nathalie, er habe 20 Jahre lang immer nur Brahms und Schumann gehört. Wir aber hören an den emotional wichtigsten Stellen im Film Schubert – und zwar die Lieder. Es kommt einem vor, als ob diese Vertonungen die innere Seite der weiblichen Heldin darstellen, die Sentiment hat, aber nicht sentimental ist.

 

2. Auf die Frage nach der Motivation zu ihrem Film antwortete Mia Hansen-Love: „Jetzt muß ich ein Geheimnis preisgeben. Meine Eltern sind beide Philosophielehrer. Nur wundere ich mich, daß ich mir den Stoff jetzt erst vornehme. Es ist die Welt, in der ich geboren bin, in der ich zu Hause bin, das Denken, Dichten, meine Eltern als Philosophielehrer.