Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 5
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Als nach der Vorführung des italienischen Films von Gianfranco Rosi in der anschließenden Pressekonferenz minutenlanger Beifall aufbrandete und sich die allermeisten von den Stühlen erhoben, glaubte man, vorne auf dem Podium den diesjährigen Gewinner des Goldenen Bären vor sich zu sehen.
Und es spricht nichts dagegen, weil dieser Film inhaltlich alles schlagen muß, was an Bedeutungsvollem für menschliches Leben derzeit im Kino auf der Leinwand Platz hat. Es geht um das Überleben und eben auch das Sterben der aus Afrika Fliehenden um die Insel Lampedusa herum, aber auch um das traditionelle Leben auf dieser kleinen Insel, die zum afrikanischen Kontinent die kürzeste Entfernung im Westen hat ,so wie Lesbos im Osten der türkischen Küste am nächsten ist. Deshalb sind diese Insel diejenigen, die afrikanische Flüchtlinge als erste ansteuern - mit meist abenteuerlichen Booten von der seemännischen Ausrüstung her, zudem total überfüllt, daß schon alleine dies ein Grund für Kentern und Tod ist.
Der Film spart die Rollen von Schleppern aus. Zwar werden die Preise genannt, die für die sechs Stunden lange Überfahrt bezahlt werden müssen, selbst in der letzten Klasse sind das noch 800 Dollar, wobei die Menschen unter Deck wie Gepäckstücke übereinander verfrachtet sind und dort auch die meisten Toten gefunden werden. Der Film hat schon genug damit zu tun, die Komplexität des Geschehens filmisch wiederzugeben. Stilmittel sozusagen ist das beziehungslose Gegeneinanderstellen vom Leben auf der Insel und dem Schicksal derer auf dem Meer vor der Küste Lampedusas, ihr Ankommen, die erste Registrierung genauso wie die erste medizinische Versorgung, von Essen und Trinken ganz abgesehen.
Es sind Bilder auf hoher See, die unser Bildgedächtnis aus den Fernsehberichten gespeichert hat, die aber hier im Laufe des Films eine tiefere Bedeutung gewinnen,weil wir sie einfach länger vor Augen haben und Regisseur Gianfranco Rosi uns immer wieder mit ihnen konfrontiert: mit den überfüllten Boten, mit den Hilferufen über Funk, und den gegenseitigen Kommunikationsverssuchen („Position?, Position? Position?“), mit den Rettungsaktionen mit Hubschrauber und Schlauchboten. Dann aber kommt unvermittelt ein Mann ins Bild, der bei italienischer Schlagermusik mit Rechnern umgeht und wir erst auf den zweiten Blick mitbekommen, daß er der örtliche Radiomoderator ist, der gerade ein Wunschkonzert aus Anrufen der Hörer zusammenstellt und selig mit der Musik mitsingt.
Die Einwohner von Lampedusa lernen wir nun in ausgewählten Personen kennen, die Ältere, die das Radio dauernd dudeln hat und sich die Schlager für sich und ihren Mann bestellt, eine ordentliche, emsige Frau, Kleinbürgertum mit einer heilen Welt. Wir erleben den Fischer, der mit anderen aufs Meer hinauswill, was der aufkommende Sturm gerade verhindert. Den Arzt Pedro Bartolo, der schon im Film tiefen Eindruck macht, weil er mit einer geflüchteten Schwangeren über ihre erwarteten Zwillinge so vertraut spricht, obwohl sie kein Wort Italienisch versteht, was alleine vom Klang sie sicher beruhigt. Er ist der einzige Einwohner Lampedusas, den wir im Film sehen, der direkt mit den Flüchtlingen zu tun hat und in Berlin auf dem Podium die allerschwärzesten Sachen sagt. Vor allem lernen wir aber den zwölfjährigen Samuele kennen, der den Film zusammenhält, und dessen Erkundungswege auf der Insel und dem Meer wir verfolgen, die gleichzeitig Erkundungswege ins Erwachsenenleben sind, so wie er ätzend neugierig und genau seinen Onkel nach dessen Matrosenjahre befragt. Das alles ist Lampedusa. Heimat für die einen, Sehnsuchtsort und Metapher für ein besseres Leben für die anderen.
Der Film zeigt die Flüchtlinge auf dem Meer und ihr Ankommen. Diese Bilder werden nicht kommentiert. Es sind die Szenen auf See und an Land mit Ton aufgenommen worden. Wir hören das Meer, wir hören die Anweisungen derer, die die Flüchtlinge in Empfang nehmen, sie registrieren etc. Wir sehen auch, wie die Toten in Leichensäcken oder auch übereinandergestapelt über den Boden geschleift, getragen, transportiert werden.(Manchmal hatten wir im Film das Gefühl, daß allein dieseSzenen keine wahren, sondern inszenierte Aufnahmen seien, was wir verstünden.) Sehr viele Leichen.
Wir haben im Kollegenkreis eine Diskussion mitbekommen, dernach diese Bilder die Würde der Toten verletzten, was gegen den Film spreche. Das ist allerhand und für uns eine arrogante Aussage und Rechtfertigung, solche Bilder den Augen der Welt vorzuenthalten. Es ist doch genau umgekehrt. Die Würde der Toten verletzt, daß sie als Lebendige in eine solche Lage gekommen sind, der die ganze Welt zuschaut, ohne daß bis heute ein ernstzunehmendes Eingreifen der Welt geschieht.
In dem Pressegspräch wies der Regisseur daraufhin, daß die letzte Aufnahme am 13.Januar diesen Jahres gedreht wurde. Das ist für einen Film eine kaum glaubliche kurze Zeit bis zur Fertigstellung. Anders als sonst, verbietet es sich bei diesem Film direkt nach seiner filmischen Qualtität zu fragen. Es ist leichter vom Gegenteil auszugehen, nämlich, was unter den Aspekten von Film für ihn spricht. Das ist nämlich sein Ton, tja fast der Neutralität, der nie sentimental wird, nie den Zuschauer zusätzlich zu etwas auffordert, was er in unserem Falle von alleine angesichts der Bilder empfindet. Hier wird die Sache selbst gezeigt. Die Sache sind Menschen, die auf unmenschliche Weise überleben oder sterben. Wenn wir im Film, der 107 Minuten dauert, Längen empfanden, so wirkten sie wie absichtsvoll als Stilmittel eingesetzt, was bei uns wirkte.
Foto:
Regisseur Gianfranco Rosi