Die Filme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Teil 2
Kirsten Liese
Berlin (Weltexpresso) - Isabelle Huppert ist wie die Jury-Präsidentin Mery Streep schon seit Jahrzehnten eine Größe im Kino und aktuell mit zwei laufenden Produktionen in Deutschland sehr präsent. Zwar ähnelt sich ihre signifikante Mimik bis in den kleinsten Winkel ihres Gesichts hinein von Figur zu Figur, aber das mag auch damit zu tun haben, dass all diese Frauen ganz auf ihre Person und ihre Eigenheiten zugeschnitten wirken.
In dem bislang stärksten Berlinale-Wettbewerbsbeitrag „L’Avenir“ der Französin Mia Hansen-Løve jedenfalls brilliert Huppert erneut in einer Rolle, die wohl keine andere Schauspielerin vergleichbar ausfüllen könnte, geht es doch um Einsamkeit, Leere und einen Schmerz, den es klaglos zu ertragen gilt.
Huppert ist Nathalie, eine Philosophielehrerin an einem Pariser Gymnasium in reiferen Jahren. Eigentlich steht alles zum Besten. Sie lebt mit ihrem Mann, der an derselben Schule dasselbe Fach lehrt, und zwei fast erwachsenen Kindern unter einem Dach, veröffentlicht Bücher und ist selbstbewusst genug, sich von niemandem die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Sogar, dass ihre alte, kapriziöse Mutter sie ständig nachts anruft, nimmt sie gelassen.
Aber eines Tages muss Nathalie gleich zwei radikale Verluste erleiden: Die Mutter stirbt und ihr Mann verlässt sie wegen einer Jüngeren. In vielen anderen Filmen braucht es weniger, damit die Heldinnen in einer schweren Depression versinken und zu Boden gehen. Nicht aber Nathalie. Es tut gut, dass eine Frau einen Film über eine Frau macht, die ihrem Mann nicht hinterher weint, sondern ihre Situation mit einer beneidenswerten, geradezu vorbildlichen Stärke meistert. „Ich habe ein intellektuell erfülltes Leben“, sagt Nathalie einmal, und vielleicht gewinnt sie sogar über ihre Verluste ihre Freiheit zurück?
Die langsame, künstlerisch anspruchsvolle, facettenreiche Studie bietet darüber hinaus aber noch viel mehr, anregende Reflektionen zu Themen wie Wahrheit und subtile Beobachtungen, wie sich schmerzreiche Erfahrungen über Generationen hinweg von Großmutter zu Mutter und Enkelin vererben.
Wie „L’Avenir“ ist auch der Wettbewerbsbeitrag „Alone in Berlin“, eine Adaption des Fallada-Romans „Jeder stirbt für sich allein“ eine Koproduktion mit deutscher Beteiligung. Das Buch wurde 1976 allerdings schon einmal überzeugender von Alfred Vohrer mit Hildegard Knef und Carl Raddatz in den Hauptrollen verfilmt. Vincent Perez fügt der Geschichte von den couragierten Eheleuten Quangel, die - nachdem sie ihren Sohn an der Front verloren haben - anfangen, mit Postkarten zum Aufstand gegen die Nationalsozialisten aufzurufen, keinen neuen Aspekt hinzu. Er erzählt nur brav nach.
Emma Thompsen und Brandan Gleesan füllen ihre Rollen so gut es geht, aber dass sie und neben ihnen auch alle deutschen Schauspieler, darunter Daniel Brühl, Lars Rudolph und Katharina Schüttler, Englisch reden, ist das größte Problem dieser überflüssigen, unauthentischen, bisweilen gar unfreiwillig komischen Neuinterpretation.
Dagegen verhandelt der amerikanische Beitrag „Genius“ höchst spannend ein literarisches Sujet: Der treffliche Colin Firth spielt hier den engagierten Lektor Max Perkins, der im New York der Zwanzigerjahre im Verlagshaus Scribner’s Sons zukünftige Schriftstellergrößen wie F. Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway unter Vertrag nimmt. Ihn hat es wirklich gegeben. Als ihm ein wildes, ungeordnetes Script mit über tausend Seiten des noch unbekannten Thomas Wolfe (Jude Law) in die Hände fällt, meint er, ein Genie entdeckt zu haben. Michael Grandage zeichnet in seinem sensibel inszenierten, dichten Kammerspiel den schwierigen Entstehungsprozesses eines Buches nach, an dem Autor und Lektor zusammen wirken, mit allen Ambivalenzen, Reibungen, emotionalen Ausbrüchen, Höhen und Tiefen, die dazu gehören.
So akribisch wie die beiden um Formulierungen, um jedes einzelne Wort ringen und dabei viele, viele Sätze streichen, eröffnen sich unwillkürlich spannende grundsätzliche Fragen zur Rolle eines Lektors: Macht er, der bisweilen soviel heraus streicht, dass weniger als die Hälfte übrig bleibt, das Werk erst lesenswert oder amputiert er es? Da fallen freilich auch Namen wie Leo Tolstoi oder Marcel Proust, die wohl darunter gelitten hätten, wenn einer wie Max Perkins sie drastisch zusammengestutzt hätte. Und doch leuchten Perkins’ Argumente und Einwände am konkreten Beispiel dann doch oft ein. Colin Firth und Jude Law besorgen jedenfalls eine bärenstarke Vorstellung. Sie hätten einen geteilten Darsteller-Bären verdient.