Die Wettbewerbsfilme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Film 24/23
Claudia Schulmerich
Berlin (Weltexpresso) – Es gibt außerhalb der Internationalen Jury nur wenige Menschen auf der Berlinale, die alle Wettbewerbsfilme anschauen – diesmal drei Filme pro Tag und der eine Achtstundenfilm – und ich kenne keinen weiteren, der über alle schreibt. Natürlich gibt das einem das Gefühl, man könne besonders gut mitreden bei den Bären, die zu vergeben sind und die Weltexpresso im nächsten Berlinaleartikel noch einmal aufführt.
Im folgenden Artikel werden dann die Preisträger zu lesen sein, die wirklichen Gewinner. Aber – und so sehen es alle, die Beteiligten erst recht – Gewinner sind schon einmal die 23 Filme, die zum Wettbewerb eingeladen worden sind, wobei man ganz deutlich unterscheiden muß zwischen den Filmen, die sozusagen ordentlich teilnehmen und denen, die außer Konkurrenz laufen. Die gehören also eigentlich gar nicht zum Wettbewerb, hübschen den auf und haben ansonsten Qualitäten, von denen jetzt aber keine Rede sein muß, denn sie können keinen Bären gewinnen.
Wir vergessen also in diesem Zusammenhang den Eröffnungsfilm der Brüder Coen HAIL CAESAR! (Film 1), der schon letzte Woche in den USA angelaufen war, was schon eine reguläre Teilnahme am Wettbewerb verbietet, denn es müssen Weltpremieren sein. Auch der richtig interessante Beitrag aus Neuseeland MAHANA (Film 7) trat nicht an, genauso wenig CHI-RAQ, die bunte Lysistrataversion aus Chicago sowie NEUES VOM PLANETEN MARS (Film 19), der uns ob seiner Mischung aus Normalität und Abgehobensein faszinierte. Auch die harmlose, aber eben menschliche französische Komödie, auf den ganz schön dicken Leib von Gérard Depardieu zugeschnitten, SAINT AMOUR lief außer Konkurrenz.
Damit bleiben immerhin 18 Filme übrig, unter denen nun Preise zu verteilen sind. Wir nehmen nämlich die Preise als Bündel. Denn zuerst nach dem besten Film, der besten Darstellung etc. zu fragen, bringt Schwierigkeiten, wenn man einen Film schon ausgezeichnet hat, er auf einmal noch einen bekommt und noch einen und man zu spät feststellt, welche wichtigen Filme keinen Preis erhalten haben. Wir könnten uns vorstellen, daß die Jury ähnlich vorgeht und erst einmal vorsortiert, welcher Film auf jeden Fall unter den Preisträgern sein sollte.
Geht man so vor, würden wir der Reihenfolge des Zeigens nach auf jeden Fall folgende Filme berücksichtigen, was wir auch schon in unserer Kritik unmittelbar danach ausdrückten: HEDI, FUOCAMMARE (!), L'AVENIR, 24 WOCHEN, TOD IN SARAJEVO, CHANG JIANG TU (!), GENIUS, ZERO DAYS und HELE SA HIWAGANG HAPIS.
Uns persönlich hat am besten dieser chinesische Film CHANG JIANG TU gefallen, was wir aber mit Vorbehalt sagen, weil wir ihm nicht den Goldenen Bären geben würden, sondern einen Preis für etwas Besonderes. Dieser Film läßt sich mit den anderen kaum vergleichen, weil er eine Bewußtseinsebene erreicht, die Loslassen von Rationalität bedeutet. Nachdem wir alle Filme gesehen hatten, stimmen wir unsere spontanen Einschätzung vom Samstag, dem dritten Festivaltag zu, daß FUOCOAMMARE ein würdiger Preisträger für den Goldenen Bären wäre.
Dies ist der Flüchtlingsfilm von Lampedusa. Es wären aber alle falsch gewickelt, die jetzt glaubten, daß so etwas eine Politnummer wäre, also die Berlinale, die einen guten Ruf als politisches Festival zu verlieren hat, in der heutigen Zeit in Europa sozusagen automatisch einen Flüchtlingsfilm prämieren müßte. Wir wären die ersten, die widersprächen, wenn allein aus solchen Gründen gewählt würde. Nein, der Film, der ein Dokumentarfilm ist und wieder nicht, ist einfach gut. Das kann man in unserer direkten Filmbesprechung nachlesen. Er ist nicht nur gut, sondern dialektisch gemacht, wenn die Einheimischen mit ihrem kleinen Glück den den Tod auf dem Wasser überlebenden Flüchtlingen mit ihrem Unglück einer ungewissen Zukunft gegenübergestellt werden. Wir wollen das nicht wiederholen, aber gerade die Unsentimentalität dieses Films macht seine Bedeutung aus.
Uns hat ZERO DAYS auch sehr gut gefallen, ein weiterer Dokumentarfilm, von dem wir aber annehmen, daß er keine Rolle spielen wird, denn Darstellerpreise verdient er nicht und er ist ja nicht künstlerisch hervorgetreten, sondern von seinen Inhalten her, wie nämlich und aus welchen Gründen dieser Internetwurm namens Stutnex das persische Atomprogramm ruinierte. Aber zwei Dokumentarfilme zu ehren, wäre einfach zu viel, angesichts der 16 anderen Spielfilme.
Schaut man nach den Darstellerpreisen, ergeben sich natürlich weitere Namen. Hoch gehandelt wird hier die KOMMUNE von Thomas Vinterberg, den wir als Film überhaupt nicht preiswürdig finden, aber glauben, daß die Anna von Trine Dyrholm eine solche theatralische Frauenfigur ist, daß sie eher einen Silbernen Bären für die Darstellung erhält, als sehr zurückgenommene und nicht so unglückliche Rollen.
Was die männlichen Darsteller angeht, sprechen so viele von den beiden Protagonisten in GENIUS, von dem Dichter Thomas Wolfe (Jude Law) und Maxwell Perkins (Colin Firth) als seinem Entdecker und Lektor. GENIUS ist ein Film, der einem die Welt der Literatur näher bringt und die Schwierigkeiten, sich in ihr zu behaupten. Er hat nur die gegenwärtig zu beobachtende Filmkultur aus Hollywood – für andere eine Filmunkultur – zum Programm erhoben, alles in derartiger Klarheit, Übersichtlichkeit und Vollständigkeit linear vor sich hin zu erzählen und unterstützt von Kleidung und Ausstattung gewissermaßen durchzuerzählen, daß wenig Neugierde beim Zuschauer bleibt, was passieren wird und eben auch nicht, was mit den Figuren passieren wird. Die sind einfach zu eindimensional angelegt, wenngleich mit Pathos seitens des Wolfe und Zurückgenommenheit auf Seiten des Lektors, also wirklich gut gespielt, aber eben überdeutlich.
Interessante Männerrollen gibt es in HEDI, SIEBZEHN SEIN, CHANG JIANG TU, GENIUS, SOY NERO, DIE KOMMUNE u.a.
Wer also das BESTE DREHBUCH geschrieben hat, wer den Silbernen Bären für eine HERAUSRAGENDE KÜNSTLERISCHE LEISTUNG erhalten wird, wer den Preis für die BESTE REGIE, den ALFRED-BAUER-PREIS für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet, den GROSSEN PREIS DER JURY und den GOLDENEN BÄREN für den BESTEN FILM wird – so denken wir – unter den oberen Filmen entschieden, dann nämlich, wenn es nach unserem Filmgeschmack geht. Das Tolle an Festivals und an Jurys ist, daß es auch ganz anders kommen könnte, aber so oder so, wir fanden das eine ausgesprochen spannende Berlinale und haben sowohl mit dem Achtstundenfilm des philippinischen Regisseurs Lav Diaz wie auch mit dem Film über den Fluß Jangtse des Chinesen Yang Chao unsere tiefsten Filmeindrücke erleb, weshalb ihnen die beiden Bilder gewidmet sind, denn naturgemäß werden eher die Filmbilder und Schauspieler gezeigt, als die Männer und Frauen (leider nur zwei!), die Regie führen. Fortsetzung folgt mit den potentiellen Preisen und der Preisverleihung.
Foto: links der Philippine Lav Diaz, rechts der Chinese Yang Chao