Die Filme der 66. Berlinale vom 11. bis 21. Februar 2016, Teil 4

 

Kirsten Liese

 

Berlin (Weltexpresso) -

Die Berlinale ist traditionell das politischste unter den drei größten Filmfestivals. Das hat leider schon häufiger dazu geführt, dass die Juroren weniger die künstlerische Qualität der eingereichten Werke berücksichtigten als vielmehr die weltverbesserungsbedürftigen Themen.

 

 

 

Gianfranco Rosis Flüchtlings-Doku Fuocoammare, der in diesem Jahr den Goldenen Bären gewann, lässt sich wohl auch eher als ein Solidaritätspreis für Flüchtlinge und Votum für den aktuellen politischen Konsensfilm erklären. Der Italiener zeigt tragische Impressionen, die sich im Zuge der Flüchtlingskrise auf der kleinen Insel Lampedusa im Laufe eines Jahres ereignet haben: entkräftete Gestrandete, Tote im Bauch eines Flüchtlingsboots, ganze Leichensäcke.

 

Die Botschaft ist nicht zu übersehen, sie sollen Betroffenheit und ein schlechtes Gewissen bewirken. Fraglich bleibt indes, ob sie tatsächlich für die Tragödien der Flüchtlinge sensibilisieren, wo doch seit Monaten ähnliche Bilder schon die Nachrichten dominieren.

 

Als problematisch erscheint es zudem, dass Rosi seine Szenen an den von den Dramen wenig berührten Alltag auf der Mittelmeerinsel koppelt. Dass unmittelbar neben dem Horror oftmals menschliche Indifferenz herrscht, ist eine Binsenweisheit.

 

Andererseits litt die Aufmerksamkeit für anderweitige Spannungsfelder keineswegs, so sie denn überzeugend ins Bild gesetzt waren. Vor allem der Silberne Bär für das beste Drehbuch scheint mehr als verdient: „United States of Love“ beschert wie Pawel Pawlikowskis vielfach preisgekröntes Drama „Ida“ große Filmkunst aus Polen. Es ist ein großer, verstörender Film über die Einsamkeit.

 

Tomasz Wasilewski geht es um die Agonie einer Gesellschaft. Er porträtiert vier Frauen in der Provinz, die auf traurige, böse oder sonderbare Weise Liebe oder zumindest körperliche Nähe suchen und deren Gefühlsstau sich egoistisch bis zur sexuellen Entgrenzung aufzulösen beginnt. Da ist Agata, die Mutter eines Mädchens in der Pubertät. Sie hat sich heimlich in einen katholischen Priester verguckt hat und stürzt sich zur Kompensation auf ihren Mann, den sie mit ihren sexuellen Wünschen überfordert. Beharrlich kämpft auch die Schuldirektorin Iza um einen Mann. Ihr langjähriger Geliebter ist nach dem Tod seiner Frau endlich frei. Aber ihr krampfhaftes Bemühen, ihn an sich zu binden, schreckt ihn drastisch ab.

 

Die ältere Lehrerin Renata schließlich, alleinlebend mit Dutzenden frei fliegender Kanarienvögel, hängt sich an ihre junge Nachbarin, die Aerobiclehrerin Marzena. Letztere ist zu gut für diese Welt, sie benutzt niemanden, wird dafür aber umso mehr von anderen ausgenutzt.

 

Ein anderer Meister ist in dem mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Drama „Death in Sarajevo“ am Werk. Boris Tanovic setzt sich mit der Vergangenheit Ex-Jugoslawiens, mit Europas Rolle in der Gegenwart und Wirtschaftsproblemen auseinander, ohne sich zu verzetteln. Er verbindet viele Episoden an einem einzigen Ort in wenigen Stunden und macht aus einem Kammerspiel, in dem viel geredet wird, ein großes Kinoabenteuer.

 

In einem Wettbewerb, dem die ganz großen Ausreißer nach oben und nach unten fehlten, war auch lAvenir das kluge Psychogramm von Mia Hansen-Løve mit Isabelle Huppert als selbstbewusster Philosophieprofessorin ein sicherer Anwärter für einen Silbernen Bären (Regiepreis).

 

Aber auch Beiträge, deren Geschichten zwar rätselhaft unverständlich erschienen, aber cinematografisch mit herrlichen Panoramen und ungewöhnlichen Landschaften beeindruckten, wie das achtstündige Werk des philippinischen Regisseurs Lav Diaz oder der chinesische Film „Crosscurrent“ um einen jungen Mann, der nach dem Tod seines Vaters auf eine lange Reise geht, fanden bei der Preisverleihung Beachtung.