Berlinale Retro "Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West"

 

Claus Wecker 

 

Berlin (Weltexpresso) - Es mutet schon merkwürdig an, wenn die Filme, mit denen man groß wurde, Thema einer Retrospektive werden. Wenn den eigenen Entdeckungen die Bedeutung eines allgemeinen Umbruchs zugemessen werden. "Abschied von gestern", "Mahlzeiten" oder "Es" sind in der Erinnerung Beispiele eines lebendigen, realitätsnahen Kinos, das neu und in deutschen Filmen bis dahin ohne Beispiel war. Wie schauen die Filme heute aus?

 

Die diesjährige Berlinale bot in einer Retrospektive, die den deutschen Filmen des Jahres 1966 gewidmet war, die Gelegenheit zum Überprüfen und für ein jüngeres Publikum zum Kennenlernen. Vorab muss erst einmal gesagt werden, dass es 1966 den „Neuen deutschen Film“ gar nicht gab. Das, was in dem legendären Oberhausener Manifest von 1962 formuliert worden war und nun in die Tat umgesetzt wurde, wurde der „Junge deutsche Film“ genannt. Von Anfang an ging es eben auch um einen Generationenkonflikt, denn Opas und Papas Kino wurde für tot erklärt. In der Rückschau scheint es auch so, dass man sich von der Nouvelle Vague abgrenzen wollte, obwohl sie natürlich ein Vorbild war. Erst als die jungen Filmemacher älter wurden und es in Zusammenhang mit vierzig-, fünfzigjährigen Filmemachern etwas seltsam wurde, vom „Jungen deutschen Film“ zu sprechen, kam die Bezeichnung „Neuer deutscher Film" auf, die mittlerweile für die ganze Bewegung verwendet wird.

 

Das Jugendliche in den Filmen hat sich bis heute erhalten – trotz zeitgebundener Kleidung und Frisuren der Protagonisten und besonders der Protagonistinnen. Im Vergleich zu heutigen Filmen wirken sie erstaunlich frisch, einen dokumentarischen Touch besitzen sie alle. Das hängt auch mit den Schauplätzen zusammen. Originale oder zumindest original anmutende Drehorte, selbst wenn die Geschichte nicht in der Gegenwart spielt. So weicht auch Volker Schlöndorff mit seiner Verfilmung des Musil-Romans „Der junge Törless“ nicht ins Studio aus. Das gibt der Erzählung vom beobachtenden und nicht eingreifenden Zeugen eines verschärften Mobbings unter Internatszöglingen eine aktuelle Note. Die Anspielung auf Deutsche, die den Untaten der Nazis zuschauten, war und ist nicht zu übersehen.

 

Schon mit seinem ersten Spielfilm hatte Schlöndorff seinen Stil gefunden, der nicht von formalen Experimenten, sondern von einer anschaulichen Erzählweise geprägt ist. Vermutlich ist dies auf seine französischen Lehrjahre zurückzuführen, auf seine Assistenz bei Louis Malle und Jean-Pierre Melville, zwei großen Erzählern des Kinos. Wesentlich direkter als Schlöndorff sind dagegen Alexander Kluge und das Paar Jean-Marie Straub und Danièlle Huillet mit der belastenden deutschen Vergangenheit umgegangen. Deren „Nicht versöhnt“ ist ein unglaublich spröder Film, der bis heute einzigartig geblieben ist.

 

Kluges „Abschied von gestern“ ist seinerseits der Beginn einer Serie von semidokumentarischen Filmen, ideenreichen Glasperlenspielen, die viel von ihrer Wirkung eingebüßt haben. Stilistisch verwandt ist „Mahlzeiten“, der erste Spielfilm von Edgar Reitz, der zusammen mit Kluge die Abteilung für Filmgestaltung an der Ulmer Hochschule für Gestaltung leitete. Auch für Reitz schnitt Kluges Cutterin Beate Mainka-Jellinghaus, die bei Insidern als Erfinderin des Kluge-Stils gilt. „Mahlzeiten“ erzählt von einer Frau, die ständig Kinder bekommt, weil sie das für natürlich hält, und damit ihren Mann überfordert. Das war zu Zeiten der Empfängnisverhütung starker Tobak. Doch zeigt der Film das Paar zumeist kinderlos, was auch seinerzeit schon bemängelt wurde. Er ist deshalb trotz seines dokumentarischen Stils ein intellektuelles Konstrukt. Glücklicherweise hat Reitz später in seinen „Heimat“-Filmen eine schlüssigere Darstellungsform gefunden.

 

Eine Entdeckung in der Retrospektive war „Der sanfte Lauf“ von Haro Senft. Wenn man in seinem Namen den Vokal austauscht, bekommt man das Adjektiv im Filmtitel und zugleich Senfts hervorstechende Charaktereigenschaft. In einer Zeit, in der gegen Vietnamkrieg und Notstandsgesetze demonstriert wurde, in der also heftige Opposition an der Tagesordnung war, schien die Figur des jungen Mannes, dem durch die Liaison mit einer Industriellentochter der berufliche Aufstieg winkt, zu zögerlich. Heute überzeugt aber gerade diese Unentschiedenheit, die zurückhaltende Art des jungen Bruno Ganz in seiner ersten großen Filmrolle.

 

Doch nicht nur im Westen kam um das Jahr 1966 eine ganze Welle von neuartigen Filmen heraus. Auch die DDR hatte einen Neuanfang zu bieten, der allerdings bis auf wenige Ausnahmen in den Giftschränken der sozialistischen Zensoren verschwand. "Wer die Hand gegen die Arbeiterklasse erhebt, dem wird sie abgehauen", drohte ein SED-Kulturfunktionär. "Spur der Steine" war nur wenige Tage in einem Ost-Berliner Kino zu sehen und kam erst zusammen mit anderen Verbotsfilmen nach der Wende 1989 auf die Kinoleinwände. Da konnte man endlich einen der besten deutschen Filme nach dem Zweiten Weltkrieg, ja einen der besten deutschen Filme überhaupt bewundern. Inzwischen darf Frank Beyers Werk auf keiner Retrospektive fehlen.

Zwei Filme wurden diesmal in ihrer ursprünglichen bzw. rekonstruierten Fassung und in der Zensurfassung gezeigt: Hermann Zschoches "Karla", die Geschichte einer Lehrerin, die ihre Schüler zum eigenständigen Denken erziehen will (an sich schon eine Unverfrorenheit in der DDR), und "Jahrgang 45" von Jürgen Böttcher, der eine junge Ehe in der Krise schildert.

 

Mit ihrem Blick auf ein einziges Jahr schloss diese Retrospektive an die Ausgabe von 2002 an, die sich unter dem Titel „Revolte, Phantasie & Utopie“ mit dem europäischen Kino der 60er Jahre beschäftigte. Der Optimismus jener Zeit, der auch jetzt wieder in den gezeigten Filmen zu spüren war, ist im Lauf der Jahrzehnte allerdings verloren gegangen.

 

Foto:

Bruno Ganz in DER SANFTE LAUF, Deutsche Kinemathek (c) Haro Senft

 

Info:

 

Dokumentation „Deutschland – Filmische Perspektiven in Ost und West“ mit vielen Dokumenten. Hg. von Connie Betz und Rainer Rother, Berlin: Betz + Fischer, 2016, 204 S., 25 €