Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 3. März 2016, Teil 3

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Es gibt kein Zeitzeugnisse innerhalb der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft Deutschlands, das so bekannt und in der Welt verbreitet wurde wie DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK, was ja auch deshalb bemerkenswert ist, weil eine Jugendliche ihr Leben niederschreibt, das mindestens zwei Themen hat: ihr Eingesperrtsein, um zu überleben und ihr Verhältnis zu den anderen und zu sich selbst als Pubertierende.

 

Stellt man dem gegenüber, daß mit diesem Film die erste deutsche Kinoverfilmung vorliegt, mag man das erst einmal nicht glauben.Es gab zwar im letzten Jahr ein sehr sehenswertes Dokudrama MEINE TOCHTER ANNE FRANK vom Hessischen Rundfunk mit einer berührenden Anne, ansonsten kennen wir das zweijährige Überleben der Familie Frank in Amsterdam aus vielen filmischen Dokumentationen sowie einigen fremdsprachigen Spielfilmen – und hoffentlich aus den auf Niederländisch verfaßten Tagebüchern selbst, von denen es ja mehrere gibt.

 

Zum einen wollte Anne Schriftstellerin werden und hat ihre erste Tagebuchfassung später noch einmal „in Form“ gebracht. Diese Überarbeitung konnte sie, die am 12. Juni 1929 in Frankfurt zur Welt kam, nicht fertigstellen, da am 4. August 1944 durch Verrat ihr Versteck von der Gestapo entdeckt wurde und sie am 2. September mit ihrer Familie nach Auschwitz deportiert wurde, von wo sie am 1. November mit ihrer Schwester ins KZ Bergen-Belsen transportiert wurde, wo beide im Februar/März 1945 starben. Das KZ wurde am 14. April durch die Briten befreit. Sowjetische Soldaten hatten schon am 27. Januar Auschwitz befreit, wo Vater Otto Frank überlebt hatte und von da den Fußmarsch nach Basel unternahm, wo die aus Frankfurt geflüchtete Großfamilie schon lebte.

 

Otto Frank war es, der als erster eine bereinigte (kritische Äußerungen über die Mutter, Annes pubertäre Gefühle und Gedanken) Fassung in den Niederlanden 1947 veröffentlichen ließ, die 1950 auf Deutsch erschien. Eine seiner Helferinnen hatte die Blätter nach dem Gestapoüberfall vom Boden aufgesammelt und in einer Schublade verwahrt. Seit 1955 erscheint DAS TAGEBUCH im Fischer Verlag, der auch 2013 in Zusammenarbeit mit dem Anne Frank Fonds eine Gesamtausgabe sämtlicher Texte vorlegte, wobei die Übersetzerin Mirjam Pressler zu erwähnen ist.

 

Warum eine dermaßen lange Vorrede zu einem Film? Deshalb, weil angesichts der Person und der Bedeutung ihrer Tagebücher, heute Schullektüre nicht nur in Deutschland, man sehr auf den Inhalt – Wiedergabe des Textes vom Eingesperrtsein der Familien und Annes Gefühlen - starrt und filmische Überlegungen weniger interessieren als der Sachverhalt. Uns wenigstens. Und da ist uneingeschränkt festzustellen, daß es der 16jährigen Lea van Acken gelingt, diese zwischen Eingesperrtsein und Erwachsenwerden changierenden Gedanken und Gefühle der 13- bis 15jährigen Anne auf die Leinwand zu bringen, was bei uns Gänsehaut verursacht.

 

Zudem bringt Hans Steinbichler, der als erster Regisseur tatsächlich die Originalzitate aus dem Tagebuch im Film verwenden durfte, diese uns durch direkte Ansprachen von Anne von der Leinwand ins Publikum regelrecht unter die Haut. Das ist ein durchaus ungewöhnliches Verfahren, wie Anne direkt in die Kamera spricht und dadruch ein Amalgam aus den Zitaten und dem nachgespielten Leben auf der Enge des Verstecks in der Prinsengracht herstellt. Man kann die junge Schauspielerin, die schon auf der Berlinale 2014 mit KREUZWEG von Dietrich Brüggemann brillierte, nur bestaunen. Denn ihre Leistung besteht eben auch darin, aus einer papiernen Heldin einen lebendigen jungen Menschen zu machen, der nicht larmoyant auf die Tränendrüse drückt, sondern den Zuschauer hineinzieht in diese extreme Situation, wie das ist für ein Mädchen, das gerne fliegen möchte, eingesperrt zu sein unter lauter Menschen, mit denen man in diesem Alter eigentlich weniger zu tun haben möchte.

 

Wir kommen gleich auf Anne zurück, wollen in Kürze die unserer Meinung nach bekannte Situation, den eigentlichen Plot, schildern: Es beginnt in der Schweiz, wo die Frankfurter Familie bei den in die breits in die Schweiz gezogenen Verwadnten Urlaub macht, unbeschwerte Tage, die vom guten Miteinander zeugen. Die Nazis muß man meiden, das ist gemeinsame Devise. Otto Frank will jedoch nach Amsterdam, wohin er ein Jahr nach Hitlers Machtantritt 1934 mit seinen zwei Töchtern und Frau übersiedelt und es zu bürgerlichem Wohlstand bringt. Als die Deutschen 1942 die Niederlande besetzen, wird das Versteck eingerichtet und ausgebaut. Die Familie verläßt offiziell Amsterdam am 5. Juli 1942.

 

Von Mitarbeitern der eigenen Firma beschützt, die vom rund 50 Quadratmeter großem Versteck im Hinterhaus in der Prinsengracht 263 hinter dem Aktenregal wissen und Lebensmittel bringen, lebten nun für zwei Jahre und zwei Monate seit Juli 1942 mit der vierköpfigen Familie Frank, auch das Ehepaar van Daan mit Sohn Peter, wozu noch Zahnarzt Fritz Pfeiffer stieß. Das Leben dieser acht Personen auf engem Raum steht im Mittelpunkt des Films, wobei wir ausführlich die wohnliche Einrichtung und den sich ständig wiederholenden Tagesverlauf miterleben, durch die Tagebuchnotizen angezeigt. Wir erleben auch die Entdeckung der Versteckten sowie ihren Abtransport und sehen in den letzten Szenen die kahlgeschorenen Schwestern und ihre Mutter, die als erste und einzige der Familie Frank in Auschwitz umkam. Die kahlgeschorene Mutter bleibt im Gedächtnis, erhält filmisch aber keinen sonstigen Kontext. Vom Schicksal, dem Sterben der beiden Schwestern berichtet der Schlußtext. Für uns aber endete der Film mit dem Abtransport der Familie, als die Klappe des Wagens zuschlägt und völlige Finsternis für Anne und ihre Familie herrscht.

Die Filmmusik mochten wir nicht.

 

Zurück zur Anne im Film: Sie darf ungerecht sein, insbesondere zur Mutter, der Martina Gedeck ein verhaltenes Gesicht gibt, sie ist zickig, ganz schön frech zu den Mitbewohnern, insbesondere zu Madame van Daan, die Margarita Broich wieder so hinreißend schräg spielt, sie entwickelt zarte, ziehende Gefühle in der Brust für den neuen Mitbewohner Peter (Leonard Carow), sie ist neidisch darauf, daß dieser seine Katze mitbringen durfte, sie ihre zurücklassen mußte, sie ist fast immer lieb zur älteren, ihr aber unterlegenen Schwester Margot (Stella Kunkat), aber immer wieder auch ganz schön egoistisch, sie liebt ihren Vater, von dem sie am meisten erwartet, aber auch viel bekommt. Ulrich Noethen spielt glaubhaft den Vater in der Liebe zur Tochter, aber auch von ihr Respekt für die Mutter einfordernd.Wir sehen Anne immer wieder schreibend. Auch die Helfer und Helfershelfer erhalten Gesichter, wenn andere nichts wissende Angestellte während der Arbeitszeit im Untergeschoß des Hinterhauses von oben Laute hören, was von den Eingeweihten abgewiegelt wird. Das Heimliche, das Unterdrücken von Leben, das Verbotensein durchdringt den Film.

 

Die Anne der Lea van Acken trägt den ganzen Film und auch die schauspielerischen Leistungen der anderen ordnen sich diesem Mädchen unter. So will es das Tagebuch. So will es der Film. Man wirft dem Film einen Ausstattungswahn vor. Auch uns war der ständig im Bild erscheinende Tisch, der unentwegt gedeckt wird, dann sitzen alle, dann wird abgeräumt, einen Tick zu viel. Aber dann fragten wir uns, wie ist das denn, im Versteck zu leben? Nehmen da nicht solche Vorgänge wie gemeinsames Kochen und Essen rituellen Charakter an? Und beschäftigt man sich nicht eher mit den realen Dingen, die herumstehen, die man anzieht, stärker als sonst, weil man nichts anderes hat? Vater Frank, der selbst im Versteck Anzug mit Krawatte trägt, Mutter Frank, die auch nicht unordentlich im Nachthemd herumläuft, sondern wie auf Besuch zurechtgemacht ist? Wir sind ganz schön kleinlaut geworden bei den Überlegungen, wie ein 'richtig' gefilmtes über zwei Jahre Eingesperrtsein aussehen müßte. Wir wissen es nicht. Dieser Film zeigt eine wichtige Variante.

 

P.S.:

Und dann denken wir bei uns, ob solches Niedermachen eines Film, wie es insbesonder die FAZ von gestern und ihre Sonntagszeitung vom 28. Februar taten, nicht doch auch andere Hintergründe hat. Es ist halt schwer, sich ästhetisch einwandfrei mit dem Terror der Nazis filmisch zu beschäftigen. Aber entscheidend ist, daß man es überhaupt macht. Da haben sich die Deutschen jedenfalls bisher nicht besonders hervorgetan, was die FAZ nicht rügt.

 

 

Info:

 

Heute Abend um 20 Uhr findet, wie angekündigt, die Vorstellung von DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK in den E-Kinos Frankfurt statt - mit einem anschließenden Gespräch mit dem Regisseur.