Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. März 2016, Teil 12

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Schwere Kost. Man kann auch nicht sagen: leicht dargeboten. Aber man kann sagen, daß es dem Regisseur László Nemes, der auch das Drehbuch mitgeschrieben hat und dazu Debütant ist, gelingt, das furchtbare Geschehen im KZ, aber auch das Beharren auf dem Rest Menschenwürde, vor unseren Augen als zwingendes Ereignis geschehen zu lassen.

 

Tatsächlich hat man den Eindruck, man sei unmittelbar dabei, obwohl doch das Innere, das Leben und Arbeiten in einem Vernichtungslager, wie es Auschwitz-Birkenau war, wo die Handlung im Oktober 1944 spielt nicht in unserem Erfahrungsbereich und eben auch nicht im Bildgedächtnis vorhanden sind. Das fordernde Gesicht vom Häftling (Géza Röhrig) mit dem sturen Ausdruck und dem so starren wie leeren Blick verfolgt einen noch lange nach dem Film. Es ist der Jude Saul Ausländer, sowohl Häftling wie auch eine Stütze des Naziterrors, diejenigen, als Kapos oder zum Sonderkommando ernannt, der SS und der Lagerverwaltung bei den vielen Tätigkeiten, die mit der Ermordung der Häftlinge anlaufen, helfen müssen. Da sie selber Häftlinge sind, ist dies erst einmal ihr persönlicher Ausweg vor dem Gastod. Zum Komplizentum gezwungen zu werden, wenn man überleben will.

 

Was das heißt, wird auch von Anfang an deutlich. Wir sind erst einmal unsicher, was wir da in graubraun dunklen, aber auch warmen Tönen sehen. Mit Sauls Augen sehen wir dann die Ankunft des Zuges, die Deportation der Neuen nach Auschwitz, denen man nach langer Fahrt einredet, daß sie jetzt duschen werden. Jeder kennt das Prozedere, des Entkleidens, der nackten Körper, die weitergeschoben werden, durch große Türen einer Halle zu. Saul nun hilft, er weist den Weg, er hilft beim Ausziehen der Kleidung, dem Ablegen des Schmucks. Das alles in größter Hast. Wir sehen das Verschließen der Türen.

 

Noch während wir erst die Protest-, dann die Hilfeschreie hören und ihr Abschwellen bis zur tödlichen Stille wahrnehmen, durchsucht Saul längst die abgelegten Kleider auf Wertsachen hin und sortiert danach die Kleidung selbst. Das macht er mit geradezu routinierten Bewegungen, ohne daß ihm innere Bewegung anzumerken wäre. Dann werden die Türen aufgemacht und es folgen die vielleicht schlimmsten Szenen, wobei uns der Atem stockt. Saul ist dabei beim Aufarbeiten des Gastodes: was mit den Leichen geschieht, wie sie 'entsorgt' werden, den Boden entlanggeschleift, auf einander geschichtet, transportfähig für die Verbrennung gemacht.

 

Und da geschieht es. Saul erkennt ein Körperzucken, es ist ein Junge, der tatsächlich das Gas überlebt hat – es ist sein Junge! Er entfernt ihn aus dem Leichenberg, will ihn bergen, wird aber von den medizinischen Personal daran gehindert und sieht zu, wie der Arzt dem immer noch nicht zu vollem Bewußtsein gekommenen Kind endgültig das Leben nimmt. Dazu muß man nur das Lufteinatmen verhindern. Schaurige Szenen, die noch schlimmer werden, weil wir mitansehen, wie Saul mitansieht, wie sein überlebender Sohn gemordet wird.

 

Dies auf jeden Fall ist der Ausgangspunkt für den eigentlichen Film, indem Saul ab jetzt nur noch ein Ziel hat, den toten Körper nach jüdischem Brauch unter die Erde zu bringen. Dabei ist ganz unerheblich, ob es wirklich der tote Sohn ist, wir empfanden eher, daß Saul erkennt, daß es ein anderer Junge ist, aber der tote Körper ist es, der nun ein Eigenleben im Film annimmt, zum versteckten Zentrum wird. Er wird umhüllt, versteckt, wieder herausgeholt, untergeschoben und in alle möglichen Lagen gebracht wird, so lange Saul noch auf der Suche nach dem geeigneten Ort ist. Er braucht aber auch einen Rabbi, der den Kaddish spricht und er kann die nach jüdischem Ritus gewollte Beerdigung auch nicht alleine machen, er braucht Helfer und die, die ihn und die anderen decken. Und dann muß er auch noch Glück haben, daß alles gelingt. Dazwischen aber geht die normale Arbeit für Saul weiter: neue Angekommene, neues Ausziehen, neue Nackte....Selten hat ein Film die Ermordungen in den KZs, diese Tötungsmaschinerie als industriellen Massenmord so vor Augen geführt.

 

 

Das ist der eine Strang, der Hauptstrang der Geschichte. Er kreuzt sich mit einem Vorgang, in den diese Geschichte hineinplatzt und die historisch verbürgt ist. Es plant nämlich die Vorhut der Lagerinsassen einen Aufstand gegen das KZ-Personal, der minutiös vorbereitet ist und wo nun mit Sauls Aktivitäten die Gefahr besteht, aufzufallen und damit das politisch wichtige Ziel zu gefährden, bzw. zu verunmöglichen. Dies aber erreicht gar nicht mehr Sauls waches Bewußtsein, denn er hat nur noch das Beerdigen im Sinn, alles andere wird Nebensache.

 

Tatsächlich stehen Menschenwürde und Aufstand auf einmal in einem Konflikt. Entscheiden ist, wie Regisseur Nemes uns in das Geschehen hineinzieht. Darum ist bei diesem Film auch das Filmemachen wichtig. Einerseits ist alles sehr gedrängt, viele Nahaufnahmen, viel Huschen, Bewegen, Drängen, wobei Saul in doppeltem Sinn das Zentrum ist. Entweder haben wir ihn im Blick, verfolgen ihn bei seiner Suche nach einem geeigneten Stück Erde für seinen Sohn, oder wir sehen die Umgebung aus seinen Augen. So bleibt die Zentrierung auf die Hauptperson eine doppelte. Daß der 48jährige Schauspieler wie der Regisseur Debütant ist, also seine erste Rolle spielt, muß erwähnt werden. Er ist Schriftsteller, ja Dichter.

 

Alles in allem, eine tiefe filmische Erfahrung. Obwohl in der Diskussion dies gar keine Rolle spielte, geht es wieder einmal darum, ob man Leben gegeneinander aufwiegen kann und unter welchen Umständen man dies tut. Für Saul Ausländer wird dieser Junge sein Sohn und seine ordentliche Beerdigung wichtiger als alles andere, auch der Aufstand. Der hat ja das Ziel, das KZ außer Kraft zu setzen, das Vergasen der nach Auschwitz Geschickten unmöglich zu machen und damit die Beihilfe zum Mord durch die Gefangenen.

 

Im übrigen erinnert diese Konstellation an NACKT UNTER WÖLFEN, wo es auch ein kleiner Junge ist, diesmal ein lebendiger, der die als Kapo tätigen Gefangenen in ähnlichen Konflikt stürzt. Man kann nur hilflos zuschauen.Wenigstens das.