DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK am 3.3. in den E-Kinos Frankfurt

 

Claudia Schulmerich

 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Schon ein Privileg, gleich am ersten Tag, an dem der erste deutsche Kinofilm über ANNE FRANK anläuft, in Frankfurt dessen Regisseur Hans Steinbichler zu Gast zu haben, der nach der Vorführung sehr lange die vielen Fragen zu beantworten wußte. Die Theaterleiterin Christina Weide begrüßte für die E-Kinos den Gast und die Zuschauer, hatte aber mit Deborah Krieg auch noch die Stellvertretende Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank mitgebracht, was sich als günstig herausstellte, denn sie konnte später viele Fragen zum Hintergrund der Familie Frank klären.

 

Aber zuerst wurde der Film vorgeführt, der, wenn man ihn wie wir zum zweiten, ja dritten Mal sieht, ganz neue Aspekte gewinnt. Gerade weil man ihn kennt, fallen einem Dinge auf, von denen man sicher sagen will, die waren beim ersten Schauen noch nicht im Film. Solche Erfahrungen sind immer intensiv. Aber dann gibt es auch Haltepunkte, wo man sich sagt - genau, das fragte ich mich doch schon beim ersten Mal? Witzigerweise war es hier ein „OKAY“, das wohl Anne sagt, wo wir uns fragten, ob damals im Krieg ein Mädchen so sprach. Bei einer Filmbesprechung fallen solche Aspekte wegen Unwichtigkeit weg, und auch diesmal haben wir nicht nachgefragt, weil es einem nachgerade peinlich ist, wenn es um das Leben und Sterben der Anne Frank geht, hier beim Regisseur die Verwendung eines „okays“ in Frage zu stellen. Trotzdem, interessieren tut es uns schon.

 

Beim zweiten Mal haben wir im übrigen viel stärker auf die Daten geachtet:

 

1942

 

29. April, In Holland wird es Pflicht, den Judenstern zu tragen,

12. Juni, Anne erhält zum 13. Geburtstag ihr Tagebuch geschenkt

5. Juli, Margot Frank erhält die Aufforderung, sich zum 'Arbeitsdienst nach Deutschland' zu melden

6. Juni, Familie Frank taucht in ihrem Versteck in der Prinsengracht 263 unter

13. Juli, Familie van Pels folgt in das Versteck

14. Juli, Beginn der systematischen Transporte holländischer Juden ins Lager Westerbork

17. Juli, Erster Deportationszug von Westerbork ins KZ Auschwitz

16. November, Fritz Pfeffer wird als achter Bewohner ins Versteck aufgenommen

 

1944

11. April, Einbruch im Lager des Hauses an der Prinsengracht

6. Juni, Landung der Alliierten in der Normandie

4. August, Verhaftung aller im Versteck im Hinterhaus

8. August, Abtransport der acht Verhafteten ins Durchgangslager Westerbork

3. September, mit der letzten Deportation von Westerbork nach Auschwitz werden auch Familie Frank und die vier weiteren Hinterhausmitbewohner ins KZ geschickt

Ende Oktober/Anfang November, Deportation der Schwestern Frank von Auschwitz nach Bergen-Belsen

 

1945

6. Januar, Tod von Edith Frank in Auschwitz

27. Januar, Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee, Überlebender Otto Frank tritt den Heimmarsch an

Ende Februar/Anfang März, Tod von Anne und Margot Frank im KZ Bergen-Belsen.

 

Man kann also beim zweiten Sehen auch stärker auf die Struktur des Films achten und was bei einem welche Wirkung erzielt. Einschneiden sind die Szenen, wo die wirklich unter die Haut gehende Darstellung der Anne durch die unglaublich leinwandpräsente Lea van Acken auch dazu führt, daß sie einem von der Leinwand mit großen braunen Augen anguckt und ihren Tagebuchtext uns ins Gemüt spricht. Das ist filmisch völlig ungewöhnlich und in unserem Interview sagte die Darstellerin auch, wie schwer ihr das anfangs gefallen sei, direkt in die Kamera zu sprechen, weil man ja als Schauspieler eben nie in die Kamera schauen soll.

 

Das ist eine gute Gelegenheit, noch einmal auf den Filmtitel zu sprechen zu kommen. Es ist den meisten Filmkritikern entgangen, daß schon der Film mit Absicht DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK heißt, denn es geht hier um die Verfilmung des Tagebuchs, also damit auch der subjektiven Sicht dieses eingesperrten Mädchens. Es geht mitnichten um die historische Darstellung des Falls Anne Frank, der sonst Thema, auch Thema von Filmen ist. Auch die Gespräche, die am Tisch im Versteck geführt werden, sind durch Tagebucheinträge initiiert.

 

In der anschließenden Diskussion gilt die erste Frage, warum der Regisseur die Geschichte der Anne Frank über ihr Tagebuch erzähle. Er führt aus, daß dies vor 25 Jahren noch nicht möglich gewesen sei. Die Mentalitätsgeschichte habe damals solch freimütige Aussagen einer Pubertierenden nicht akzeptiert, aber vor allem war ihr originales Tagebuch nicht öffentlich bekannt. Völlig ungewöhnlich und neu seien deshalb die Bilder, die er dazu erfand, wenn Anne im Spiegel ihre weiblichen Sexualorgane untersuche. Eine die Erotik suchende Anne habe es vorher nicht gegeben. Sie stehe aber so im Tagebuch.

 

Eine weitere Besonderheit ist die mentale Überlegenheit dieses Mädchens, das ihr Tagebuch auch als literarisches Zeugnis für die Nachwelt konzipiert und völlig souverän sagt: „Ich will fortleben nach meinem Tod.“

 

Einige Fragen gelten der Quellenlage und das heißt den verschiedenen Versionen des Tagebuchs, das ja schon durch Anne Frank selbst die erste Überarbeitung erfuhr. Dabei wird auch nach der Rolle des Vaters gefragt, der ja unmittelbar nach dem Krieg die erste Fassung herausgab, die zwei wesentliche Kürzungen hatte: er hatte die Stellen eliminiert, in denen es um den Konflikt mit der Mutter ging, die eben sehr ungerecht und aus der Perspektive einer Pubertierenden geschrieben sind. Und er hatte alle sexuellen Passagen gestrichen.

 

Was unsereiner für die normale, also einsichtige Zensur durch einen besorgten Vater hielte, erklärte Deborah Krieg von der Bildungsstätte Anne Frank anders: der Vater habe das Tagebuch eben auch aus pädagogischen-aufklärerischen Gründen veröffentlicht, damit der Sachverhalt des Eingesperrtseins deutlich werde, also eine allgemeingültige Aussage für die Welt möglich sei. Das kann man ebenfalls nachvollziehen.

 

Fasziniert haben Zuschauerinnen darauf verwiesen, wie gut im Film nachvollziehbar werde, wie das Versteck zur neuen Heimat der acht Personen werde und die Angst vor der Entdeckung geringer werde, indem man auch lerne mit ihr umzugehen, sie zu umgehen. Das Miteinander ist auch ein durch die Betroffenen inszeniertes. Fragen galten auch dem Niederländischen, in dem das Tagebuch ja abgefaßt ist und was die Familiensprache der Franks wurde sowie auch im Hinterhaus gesprochen wurde. Das wird in Deutschland nicht besonders wahrgenommen. Es wäre auch falsch, ja verlogen, Anne Frank als Frankfurter Mädchen zu inszenieren. Das tat an diesem Abend niemand. Aber, daß Anne Frank aus Frankfurt stammt, geht besonders nahe.

 

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