Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. April 2016, Teil 2


Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) -  Ein Film, von dem man nie im Vorhinein geglaubt hätte, wie er einen packt und mit einer Welt in Berührung bringt, die etwas ganz anderes vortäuscht, als sie insgeheim lebt.


Zu Beginn fühlen wir erst einmal mit dem mißratenen Sohn Matteo mit, aber das ändert sich schnell, als wir mitbekommen, wie durchtrieben und aus der Bahn geraten dieser Junge ist. Daß er kifft, nun gut, aber daß er dealt ist schon eine Nummer doller, aber ganz schlimm wird es, als er das Baby seiner Mutter, seinen eigenen Bruder entführt, dagegen ist der häusliche Besuch von Prostituierten, mit denen er gegen sein biederes kleinbürgerliches Zuhause protestiert, noch fast ein Kinderspiel.

Auf jeden Fall kam so viel zusammen, daß die Eltern sich nicht mehr zu helfen wissen und mit einer staatlichen Erziehungsmaßnahme reagieren. Sie bitten das Jugendamt um Hilfe und das weist den Jungen, der von nichts eine Ahnung hat, in ein Heim für schwererziehbare Jugendliche ein. Holt den Ahnungslosen ab. Das Heim allerdings stellt sich als etwas ganz anderes als gedacht heraus. Es ist nämlich eine Art Aussiedlerhof, ein Gehöft ganz einsam in den Schweizer Alpen gelegen, wo ein alter Alpbauer die Erziehungs- und Sozialisationsaufgabe  für eine kleine Gruppe dieser Schwererziehbaren übernommen hat.

Noch wundern wir uns, als der Jugendamtsmitarbeiter sich in der Hütte herumschaut und die Verwahrlosung entdeckt, wobei der Alte sagt, daß seine Frau auf Besuch ihrer Familie sei. Aber die richtige Verwirrung ergreift uns erst, wenn der vom Jugendamt wieder abgezogen ist und wenn auf einmal die weiteren Jugendlichen aus dem Verschlag hervorkommen und sich die Situation umkehrt. Der Bock wurde hier zum Gärtner gemacht. Die Jugendlichen haben die Macht übernommen und der alkoholsüchtige Bauer wird von ihnen tyrannisiert.

Und genau solches wird jetzt mit dem Neuen durchexerziert. Unglaubliches bekommen wir zu sehen. Mit einem Hundehalsband wird Matteo im Käfig gehalten, geschlagen, entwürdigt – und genau das ist es, wonach er gesucht hat. Er fühlt seine Grenzen und muß sich endlich einer Macht unterordnen, die er respektiert. Was sich hier so logisch liest, wird dem Zuschauer nur als  Häppchen serviert und es ist wirklich ein Ritt über den Bodensee, besser über die Alpenspitzen, was der Zuschauer hier an Unkommodem erlebt. Das Gegenteil von Erwartetem und das Gegenteil von Langeweile.

Es ist ein Dschungelcamp auf der Bergspitze, wo es ums Überleben geht und wo ein regelrechter Kampf ums Obsiegen stattfindet. Und hier passiert das, was sich ansonsten die gutwilligen Erzieher so sehr wünschen. Der Junge läßt sich sozialisieren – nur in welche Richtung? Höchste Zeit, die Mitbewohner vorzustellen. Der Gemeinste unter ihnen ist der kriminelle Serbe, aber die wie ein Junge agierende Ali – erst spät entdeckt Matteo und wir auch, daß sie ein Mädchen ist, ist sie doch als Junge verkleidet - ist auch eine harte Nummer, die auf jeden Fall gemeinsam diesen Matteo zu einem arbeitswilligen und integrierten Jugendlichen erziehen. Denn jetzt kommt die Pointe, die wir aber nicht verraten werden.

Es ist ein Debütfilm, den Simon Jacquement originell und so gekonnt auf die Leinwand bringt, daß man ob seiner Furiosität staunt. Denn mit der oberflächlichen erzählten Geschichte ist dem verwickelten Gang durch den Film längst nicht Genüge getan. Da werden uns Menschen vor Augen gebracht, skurril und völlig ungewöhnlich, und wir erleben Situationen mit, die man sonst vielleicht als gesellschaftliche Auswüchse in der Zeitung liest.

Bei all dem Positiven bleibt eine Leerstelle. Man versteht zu wenig, was eigentlich ursprünglich Matteo zu seiner doch sehr extremen Revolte gebracht hat und man versteht auch nicht, weshalb diese vereinten Jugendlichen unter der Führung des Serben eine solche Wut entwickeln, daß sie pauschal verletzen, brandmarken und Chrieg gegen alle und jedes führen. Aber, und das versteht der Zuschauer dann schon, hier läuft kein Sozialdrama ab, das eine gesellschaftliche Herleitung braucht, sondern es eine filmische Sicht auf die Heftigkeit  und Gefühlsintensität unberechenbarer junger Leute, die ihren Platz in dieser Gesellschaft bisher nicht gefunden haben.