Das 51. Filmfestival in Karlovy Vary

Kirsten Liese

Berlin (Weltexpresso) - Das 51. Filmfestival in Karlovy Vary würdigte den im März verstorbenen Pionier der tschechischen neuen Welle der 1960er Jahre Jan Nemec und zeigte sehenswerte Weltpremieren aus Slowenien, Tschechien, Polen und Deutschland.

Ein schwer Verwundeter ringt mit seinem Leben, halbnackt und blutüberströmt auf einer größeren Straße in Ljubljana. Drei Jugendliche entdecken ihn spät in der Nacht und rufen Hilfe. Aber es dauert eine Zeit, bis die Feuerwehr und die Polizei am Tatort eintreffen, als der Verletzte endlich in der Notfallklinik ankommt, hat er viel, viel Blut verloren. Wie ein beklemmender Thriller beginnt Nightlife, der jüngste Film des Slowenen Damjan Kozole, der den Wettbewerb in Karlovy Vary überragte und verdient den Kristallglobus für die beste Regie gewann.


Je weiter die Geschichte fortschreitet, zeichnet sich ab, dass der durch starke Bisswunden zerfleischte Mann, ein renommierter Anwalt, wahrscheinlich die Nähe zu den Gewalttätern und Hunden, die ihn so schrecklich zugerichtet haben, gesucht hat. Jedenfalls wird für die geschockte Ehefrau bald zur Gewissheit, was sie bislang verdrängte: dass ihr Mann  in sadomasochistischen Kreisen verkehrte. Die Sorge, in den Medien in die Schlagzeilen zu geraten, ist groß, die Existenz ihrer Familie stünde auf dem Spiel. Also setzt sie alles daran, die Reputation ihrer Familie zu retten, entwendet den in Plastik eingetüteten Dildo, der bei ihrem Mann gefunden wurde, und versucht Ärzte und Sanitäter zu bestechen, damit sie bei der Polizei ungefährliche Aussagen machen.


Kozole, international auch bekannt durch seine Filme Ersatzteile und Callgirl,  entwickelt das Drama konzentriert und dicht mit langen, spannungsvollen Einstellungen in einer einzigen Nacht. Er kann sich dabei ganz und gar auf seine fabelhafte Hauptdarstellerin Pia Zemlijč verlassen, die subtil in ihren Blicken und Gesten ausdrückt, was jemand fühlt, den innerhalb kürzester Zeit mehrere Keulenschläge ereilen.


„Menschen sind gefährlicher als Hunde“, sagt in einer Szene eine Freundin der Protagonistin im Hinblick auf die sensationsgeile Presse, und eben dieser gefürchteten Skrupellosigkeit der Medien gilt die Anklage dieses aufwühlenden, grandiosen Films.


So wie Cannes, Berlin, Venedig und Locarno zunehmend das mittel- und osteuropäische Kino entdecken, wird es freilich für Karlovy Vary als das kleinste unter den A-Festivals schwieriger, namhafte Regiegrößen an Land zu ziehen.  


Immerhin konnte sich Karlovy Vary aber das letzte Werks des tschechischen Meisters Jan Nĕmec für die Uraufführung sichern. Der Regimekritiker, der viele Jahre im Exil lebte und mit seinem Dokumentarfilm von der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 international bekannt wurde, starb am 18. März dieses Jahres im Alter von 79 Jahren in seiner Heimatstadt Prag. Er zählte in den 1960er Jahren neben Milos Forman und Jiři Menzel zu den Pionieren der tschechischen Nouvelle Vague.  The Wolf from Royal Vineyard Street , von der Jury mit einer lobenden Erwähnung bedacht, ist ein eigenwilliges Selbstporträt. Am Anfang erinnert sich Nĕmec mit selbst gefilmten dokumentarischen Handkamera-Impressionen an die Filmfestspiele in Cannes 1968, als die Jury, der Louis Malle, Roman Polanski, Jean-Luc Godard und Claude Lelouch angehörten, aus Solidarität mit den revoltierenden Pariser Studenten das Festival ohne Preisverleihung einmalig vorzeitig abbrach.


Nĕmec verbindet solche authentischen Bilder mit frei erfundenen, skurrilen Spielfilmszenen. Grotesk wird es, wenn sein Alter Ego John Jan einem Funktionär, der ihn zu verhaften droht, versucht den Schriftsteller Franz Kafka als Vorreiter des Sozialismus nahe zu bringen oder wenn dieser auf Donald Trumps slowenische Ehefrau trifft, von der er finanzielle Unterstützung für einen Film erhofft aber nicht mehr bekommt als eine signierte Autobiografie des amerikanischen Präsidentschaftskandidaten.  Ergebnis ist zwar kein Meisterwerk, so doch aber  innovatives, fantasievolles Kino.


Wie Nĕmec kommt auch Jan Hřebejk 1967 aus Prag. Der 49-Jährige schaut ebenfalls zurück auf vergangene Zeiten, erzählt nach wahren Begebenheiten mit schwarzem, lakonischen Humor von Korruption an einer Prager Schule Anfang der 1980er Jahre. Genossin Drazdĕchová (Darstellerpreis: Zuzana Mauréry) nutzt ihre Macht gnadenlos aus. Zu Beginn eines Schuljahres  müssen sich die Kinder nicht nur namentlich vorstellen, sondern zugleich die Berufe ihrer Eltern preisgeben. So kann sie sich gleich einen Überblick verschaffen, wie sie jeden einzelnen von ihnen für sich einspannen könnte. Ihre kostenlos verlangten Dienste reichen tief ins Privatleben hinein. Unverblümt verlangt die Lehrerin von dem Vater eines Jungen, auf den sie ein Auge geworfen hat, dass er sich von seiner Frau,  die aus beruflichen Gründen von der Familie getrennt lebt, scheiden lassen soll, um künftig ihr als Partner zur Verfügung zu stehen. Verweigert sich jemand diesen Unverschämtheiten, trägt sie ihren Unmut eiskalt auf dem Rücken der Schüler aus.


Doch nur wenige Eltern wagen es, sich gegen solche Erpressungen zu wehren, so dass eine Beschwerde zu scheitern droht. Mag The Teacher dramaturgisch auch etwas konventionell anmuten, so besticht dieser liebenswert altmodisch inszenierte, der Ästhetik der damaligen Zeit verhaftete und thematisch doch erschreckend zeitlose Film  mit seiner authentischen Atmosphäre, intelligenter Psychologie und einem trefflichen Ensemble.


Dagegen erzählt der Pole Grzegorz Zariczny in seinen Waves eine vergleichsweise unspektakuläre Geschichte um zwei junge Frauen, die in Krakau eine Lehre als Friseuse machen und Probleme mit ihren Eltern haben. In formaler Hinsicht wird allerdings auch dieser mit überzeugenden Laiendarstellern besetzte Film, so wie er sein im Titel verankertes Thema konsequent und einfallsreich visuell umsetzt, zu einem cineastischen Kleinod. Insgesamt bewegte sich die 51. Ausgabe des Karlovy Vary Filmfestivals zwar auf einem etwas niedrigeren Niveau als in der vergangenen Jubiläumsausgabe, aber zumindest war das deutsche Kino gut repräsentiert durch das jüngste Werk von Sven Taddicken.


Gleißendes Glück  (unser Foto) ist die Geschichte zweier geschundener Seelen. Sie (Martina Gedeck) ist in einer brutalen Ehe gefangen und desillusioniert, er (Ulrich Tukur) ein an pornografischen Obsessionen leidender Psychologe, von dem sie sich eine Selbstbefreiung erhofft. Sie geraten in einen ungewöhnlichen Sog der Leidenschaften. Bis zum Schluss hält indes die Spannung an, ob ihre behutsame, komplizierte Annäherung einen glücklichen Ausgang nehmen wird.

Sven Taddicken erging es ähnlich wie Maren Ade mit ihrer viel beachteten Komödie Toni Erdmann in Cannes: Das Publikum feierte ihn mit stehenden Ovationen und das Fachpublikum sah in ihm einen Favoriten für den besten Film, aber am Ende gewann er nur den Fipresci-Kritikerpreis und den Europa Cinemas Label Award.


Die beiden Hauptpreise gingen überraschend an Produktionen aus dem Mittelfeld: Zoology, das Porträt einer Zoo-Angestellten, die an Rückenbeschwerden leidet, nachdem ihr an ihrem Hinterteil ein Schweif erwachsen ist, brachte dem Russen Ivan I. Tverdovsky den Spezialpreis der Jury ein. Mit seinem fantastischen Genre-Element gibt sich diese Koproduktion, an der sich auch Deutschland und Frankreich mit Fördergeldern beteiligten, zwar skurril, aber für die simple Handlung bringt es nicht viel mehr mit sich, als dass die Umgebung die Heldin in eine Außenseiterrolle drängt.


Deutlich überbewertet haben die Juroren vor allem den ungarischen Beitrag It’s not the time of my life, der zwar als dicht inszeniertes Kammerspiel mit konfliktreichen Szenen einer Ehe an Ingmar Bergmanns preisgekrönte Dramen erinnert, sich in den Streitgesprächen aber weitgehend nur an der Oberfläche banaler Alltagsprobleme bewegt.
Kirsten Liese