Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 28. Juli 2016, Teil 2
Hannah Wölfel
Berlin (Weltexpresso) - „Das Herzstück der Berlinale“ und einen „notwendigen Film“, nannte Jury-Präsidentin Meryl Streep im Frühjahr „Fuocoammare“ („Seefeuer“), den Gewinnerfilm des Berliner Festivals. Zum ersten Mal wurde dort ein Dokumentarfilm mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.
Der zwölfjährige Fischerssohn Samuele spielt am Meer, nach einem harten Schnitt rettet die Küstenwache im Wasser treibende Flüchtlinge: Zwei Welten, die fast nichts miteinander zu tun haben, auf der nur wenige Meilen von Afrika entfernten italienischen Insel Lampedusa. Ohne Kommentare fängt die Kamera den Alltag der Italiener ein. Dagegen setzt sie ohne weitere Vermittlung Bilder der Rettung und Unterbringung überlebender Flüchtlinge, den Abtransport von Leichensäcken. Samuels Mutter macht die Betten, kocht Essen, im Radio ist die Rede von 24 geborgenen Toten, sie murmelt: „Arme Teufel.“
Nur die Küstenwache ist in Kontakt mit den meist aus Schwarzafrika Geflüchteten sowie Insel-Arzt Pietro Bartolo, der die an Land kommenden Menschen untersucht. Aufgrund ihrer Unterkühlung sind sie in Gold-Folien gewickelt, was für eine Symbolik! Später untersucht der Doktor in einer Szene lange per Ultraschall eine hochschwangere Flüchtlingsfrau, die Zwillinge erwartet: „Arme und Beine sind verschlungen, so ein Chaos“, meint er fröhlich. In einer langen Einstellung zelebrieren Überlebende einen wilden afrikanischen Gottesdienst, die Menschen tanzen, ein nigerianischer Rapper beschwört die Leiden der wenigen Überlebenden: „...in der Wüste ging das Wasser aus / wir tranken unsere Pisse...“
Nur einmal fährt die Kamera in den Bauch eines in den Hafen geschleppten Schiffs, zeigt Leichenberge, die nicht einmal besonders schrecklich aussehen. Erst die wenigen leeren Wasserflaschen daneben, machen den Schiffsrumpf in den Köpfen der Zuschauer zur Hölle. „Ich habe Magenschmerzen und Albträume“, sagt der Inselarzt irgendwann in die Kamera, „jeder, der sich Mensch nennt, muss diesen Menschen helfen.“
Ein Jahr lang hat Regisseur Gianfranco Rosi auf Lampedusa gelebt und die Menschen gefilmt, eigentlich wollte er nur einen zehnminütigen Kurzfilm drehen. Auf der Berlinale berichtete der Filmemacher, er habe kein Drehbuch gehabt, die Bilder hätten sich von selbst entwickelt. „Seefeuer“ ist kein spannender, sondern ein schlichter und schnörkelloser Film, der dadurch jedoch mit Sehgewohnheiten des Kinos oder dramatischen Erwartungen radikal bricht.
Alfred Hitchcock soll gesagt haben, Kino sei wie das Leben, aus dem man das Langweilige herausgeschnitten habe. Dagegen vertrauten die italienischen Neo-Realisten der 1950er-Jahre, in deren cineastischer Tradition sich Rosi bewegt, ganz den Menschen und Tatsachen: Das Kino sind diese, scheinbar langweiligen Teile, die in „Seefeuer“ nebeneinander gesetzt werden. Die fehlenden moralischen Anmerkungen und der Verzicht auf eine stringente Geschichte lenken nicht ab von dem, was man im Film sehen kann.
Samueles Augen haben einen Fehler, er kann nur auf einem gut sehen, merkt der Doktor im Laufe des Films. Der Junge muss lernen, das zweite „faule“ Auge zu benutzen. Ohne eigentliche Absicht Rosis, wird diese Situation zur Metapher des gesamten Streifens: Wir Zuschauer können lernen, die andere Seite zu sehen - aber auch, wie Kunst und Politik in diesem Film miteinander verschmelzen.
Der Gewinner der Berlinale ist mehr als ein Flüchtlingsfilm
Info:
„Seefeuer“ („Fuocoammare“), Italien / Frankreich 2015, 108 Minuten, ab 12 Jahren, bundesweiter Filmstart 28. Juli
Regie Gianfranco Rosi mit Pietro Bartolo, Samuele Pucillo, Mattias Cucina, Samuele Caruana u.a.
Foto Verleih