Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 4. August 2016, Teil 3

Claudia Schulmerich

Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Ein wunderbarer Film und ein Film, der den spanischen Regisseur Pedro Almodóvar so zeigt, wie wir ihn am liebsten sehen, als einen Frauenversteher, der uns eine komplexe tragische Lebensgeschichte in ihren Dimensionen von Liebe, Verlangen, Verlust und Schuld erst einmal in einer Metapher zeigt, daß er im Film dann bildlich gesprochen ständig Kisten auspackt, wo doch der Film mit dem Kistenpacken beginnt.


Da sehen wir nämlich die angejahrte, gut erhaltene Julieta (Emma Suárez), wie sie von einem bequemen Leben mit dem Glas Rotwein und dem Buch in der Hand in Madrid wohl genug hat und mit ihrem, durchaus auf Distanz gehaltenen Lebensgefährten Lorenzo (Darío Grandinetti) nach Portugal ziehen will. Die schicke Wohnung ist schon gekündigt und das Packen ihrer Siebensachen mit vielen Erinnerungen verbunden. Es langweilt sie. Sie muß nach draußen.

Wir haben so angefangen, wie der Film beginnt. Man könnte auch ganz anders anfangen und erst einmal berichten, daß Almodóvar hier Erzählungen der kanadischen Nobelpreisträgerin von 2013 Alice Munro verfilmt. Aber das stimmt eben nur halb. Denn Munro hat in drei Kurzgeschichten die im Film vorkommenden Personen und die tragischen, wirren Handlungsverläufe geschildert, die aber Almodóvar zum Anlaß nimmt, die gleiche Geschichte ganz anders zu erzählen und anders nicht nur deshalb, weil ein Film anders erzählt als es Buchstaben auf dem Papier tun.

Bleiben wir also bei Julieta, die einkaufen will und der auf der Straße eine Jugendfreundin ihrer Tochter Antía über den Weg läuft. Ihrer Tochter? Davon war noch nicht die Rede und man merkt der etwas verkrampften Konversation auf der Straße an, daß Julieta außer sich ist, als die Freundin Bea erzählt, sie habe Antía am Comer See getroffen, die nun drei Kinder habe...alles Dinge, von denen Julieta keine Ahnung hat, was sie der jungen Frau nicht auf die Nase binden will, was aber für den Zuschauer nun die erste Kiste bedeutet, die noch verschlossen, Schwieriges ahnen läßt.

In der Tat hat Julieta ihre Tochter seit über 12 Jahren nicht mehr gesehen, noch irgendetwas von ihr gehört. Diese Szenen, wie es dazu kam, werden am Schluß gezeigt, wo die letzte Kiste ausgepackt wird, die wir hier zu lassen. Das Treffen mit Bea und ihren Informationen werfen Julieta völlig aus der Bahn. Oder befördern sie auf ihre eigentliche Bahn. Denn sie verwirft sofort den Gedanken, Madrid zu verlassen, verläßt stattdessen Lorenzo  und sucht sofort das Haus auf, wo sie mit ihrer Tochter gewohnt hatte. Nein, die Wohnung von damals ist nicht mehr frei, antwortet der Hausmeister auf ihre Frage, aber eine andere, ziemlich verwohnte…

Schon herb, wie Lorenzo da sitzengelassen wird, denn man spürt, daß Julieta plötzlich in einer anderen, ihrer alten Welt lebt, in ihr leidet, aber in ihr auch lebendig ist, lebendiger als die ganzen letzten Jahre. Sie weiß auf einmal, was sie will. Sie will ihre Tochter nicht nur sehen, sondern mit ihr klären, was damals passierte, warum diese sich aus einem tiefen Vertrauensverhältnis mit der Mutter verabschiedete und ohne ein Wort in die Fremde ging und nie wiederkam.

Wie nun Almodóvar auf die Vergangenheit zu sprechen kommt, ist in Filmen ein alter Hut. Er läßt die aufgewühlte Mutter an die Tochter einen Brief schreiben und mit dem Brief kommen die Erinnerungen an damals...Aber wie Almodóvar nun in die Vergangenheit eintaucht, wie er die junge Lehrerin Julieta (Adriana Ugarte) in einem Speisewagen in einem Nachtzug auf den attraktiven  Fischer aus Galizien, Xoan (Daniel Grao) treffen läßt, das ist ganz großes Kino, das uns staunend vor den Zufällen oder Schicksalsbegegnungen menschlicher Natur im Kinosessel sitzen läßt.  Denn in den Speisewagen war Julieta vor einem zufällig Mitreisenden geflohen. Unheimlich war er, der Fremde, in ihrem Abteil, der irgendwas von ihr wollte, mit ihr reden wollte. Und jetzt, wo er tot ist, Selbstmord, sieht Julieta in ihrem Versagen, diesem Mann auf seine harmlosen Fragen keine Antwort gegeben zu haben, sich der Unterhaltung durch Flucht entzogen zu haben, ihre Urschuld, die den Film durchzieht.

Und gleichzeitig wird diese Nacht zur Liebesnacht mit Xoan, in der Antía gezeugt wird. Dieser hatte ihr reinen Wein eingeschenkt, daß er eine Frau habe, die seit Jahren im Koma liege. Rechtzeitig stirbt diese, Julieta kommt an die Küste ins malerische Haus am Meer und Jahre des Glücks liegen vor den dreien, als die Tochter geboren wird. Den Almodóvar Erfahrenen freut, daß er mit der dortigen Haushälterin, einem rechten Drachen, eine der Urschauspielerinnen Almodóvars wiedersehen kann: Rossy de Palma, die einfach eine unglaubliche Leinwandpräsenz hat und mit der man sich lieber nicht anlegen möchte.

Warum es nach neun glücklichen Ehejahren zum Streit zwischen den Eheleuten kommt, dessentwegen der Fischer trotz stürmischer See zum Fischen hinausfährt – und des Sturms wegen nicht wiederkommt, das wird die nächste große Schuld sein, für die sich Julieta verantwortlich fühlt. Antía war im Ferienlager und will mit der neugewonnenen Freundin Bea nach Madrid, wohin Julieta reist, um der Tochter vom Tod des Vaters zu berichten...beide bleiben in Madrid, wo sie in dem Haus leben, in das Julieta nun wieder einzieht.

Aber es ist eine andere Julieta, eine Mutter, die weiß, daß sie ihr Kind finden wird und daß sie mit den Gespenstern der Vergangenheit aufräumt. Die Kisten sind ausgepackt. Das Leben kann beginnen.


P.S.: Raffiniert übrigens wie der Regisseur in seinem 20sten Film die zwei Julietas ins Spiel bringt. Schon durch die beiden Frauen wissen wir immer, in welcher Lebensperiode wir im Film gerade sind. Aber dann gibt es eine kurze kleine Szene, wo wir auch sinnlich Mitwisser des Alterungsprozesses werden. In einer ganz bestimmten existentiellen Situation nimmt die junge Julieta ein Bad, wäscht sich die Haare und, als sie das Handtuch von ihrem Gesicht und den trocknenden Haaren entfernt, ist sie zur älteren Julieta geworden. Das obige Bild nimmt darauf Bezug, wobei die junge Julieta hier wie die Engel in einer Veronika das Gesicht der älteren Julieta präsentiert. Eine gewagte, aber eindrückliche Bildgestaltung, mit der man sich noch lange beschäftigen kann, heißt es doch auch, daß alles, was die junge Julieta erlebte, die ältere durchleiden mußte.