Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. September 2016, Teil 5

aus dem Filmheft 

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Früher war der Service für Journalisten, die über Filme schreiben, einfach besser. Da gab es regelmäßig Filmhefte, die die Hintergründe von Filmen beleuchteten und vor allem Aussagen der Macher über ihre Produktion brachten - ob Regisseure, Hauptdarsteller oder sonstwer. Heute wird sehr oft auf eine digitale Fassung solcher Hefte verwiesen, die man sich besorgen muß, die aber, wenn man darin Interessantes findet, dann auch die Möglichkeit der Veröffentlichung bietet. Alamode Film hat sogar beides: das gedruckte Heft und die digitale Fassung, wobei wir ohne die Druckfassung gar nicht auf die Idee gekommen wären...Die Redaktion

 

Was hat Sie daran gereizt, nach HIPPOCRATE nun eine Geschichte über einen Landarzt zu erzählen?


Bevor ich selbst Filme drehte, war ich ja Arzt. Diese Tätigkeit hatte mich des Öfteren in ausgesprochen ländliche Gegenden geführt. Die Jahre, in denen ich als junger Assistenzarzt immer wieder Landärzte zu vertreten hatte, die praktisch über alles in ihrer Umgebung Bescheid wussten, empfand ich als ungeheuer bereichernd. Als ich dann Filmregisseur wurde, war es für mich schlichtweg das Naheliegendste, diese Erfahrungen filmisch umzusetzen. Und was die Handlung betrifft, so gibt es ja kaum eine romanhaftere Figur als die eines Landarztes.

 


Landärzte sind ja wahre Volkshelden, die von den Leuten verehrt werden… Leider handelt es sich aber um eine Spezies, die vom Aussterben bedroht ist.


Es wäre sehr wichtig, etwas gegen den zunehmenden Ärztemangel auf dem Land zu unternehmen und alles dafür zu tun, dass diese Ärzte nicht verschwinden. Für mich ist das ein soziales Anliegen von hoher Priorität, und daher habe ich beschlossen, es ins Zentrum des Films zu rücken. Aufgrund der Verödung ganzer Landstriche tendiert der Beruf des Landarztes ja leider tatsächlich dazu, allmählich zu verschwinden. Auch deshalb wird der Landarzt heute mehr denn je als positiver Held wahrgenommen. Er erfüllt eine sehr wichtige soziale Funktion, ist Bindeglied zwischen den Generationen und sorgt dafür, dass sich seine Patienten weniger einsam fühlen. Es lag mir sehr am Herzen, mich vor diesemBerufsstand zu verneigen, dessen Bedeutung mir schon klar wurde, als ich selbst als junger Arzt Praxisvertretungen in der Normandie oder in den Cevennen übernahm. Die damaligen Erfahrungen hatten mir überdies Gelegenheit verschafft, mit ganz außergewöhnlichen Frauen und Männern zusammenzuarbeiten.

 


Werden alle Filmfiguren einschließlich der Patienten von professionellen Schauspielern gespielt?


Ja, mit einer einzigen Ausnahme, nämlich dem Bauern, dem François ganz zu Beginn des Films einen Verband anlegt. Er ist der Eigentümer des Bauernhofs, in dem wir drehten. Die Szene hatten wir kurzerhand improvisiert und schließlich im Film beibehalten.

 

 


Und die Figuren, die eine geistige Behinderung haben?
In der Tat sind auch die Darsteller der jungen Leute mit geistiger Behinderung keine Berufsschauspieler. Allerdings hatte Yohann Goetzman, der junge Autist, bereits in Filmen gespielt, die er selbst gedreht hat. Und da er überdies gelegentlich auf der Bühne auftritt und in einer Band spielt, kann man sagen, dass ihm die darstellende Kunst zumindest nicht ganz fremd war.

 


Warum wollten Sie in Ihrem Film überhaupt Figuren mit geistiger Behinderung zeigen?


Viele Menschen mit geistiger Behinderung, darunter auch viele junge Leute, leben in ländlichen Gebieten. Und dort sind es oft Allgemeinärzte, die sich um sie kümmern, auch wenn sie nicht immer die dafür erforderliche Ausbildung haben. Hinzu kam, dass es für mich nicht vorstellbar war, mich an einen Berufsschauspieler zu wenden, um eine geistige Behinderung zu spielen – umso weniger, als Yohann ja auch Lust hatte, im Film mitzuwirken. Er hat sich mit seiner Rolle in genau derselben Weise auseinandergesetzt wie jeder andere Darsteller auch.


Im Film erscheint der Landarzt als eine Art Mädchen für alles: Er ist zugleich Pfleger, Vertrauensperson, Ratgeber…


Pfleger und Vertrauensperson in einem zu sein, das gehört in der Tat zu den Besonderheiten dieses Metiers. Hinzu kommt, dass der Landarzt einer immer seltener werdenden Spezies angehört. Die Folge davon ist eine permanente Arbeitsüberlastung, weshalb die meisten Landärzte am Rande der Erschöpfung stehen – umso mehr, als sie immer seltener die Möglichkeit haben, sich ersetzen oder unterstützen zu lassen.

 


Jean-Pierre Werner befindet sich in einer Extremsituation: Gleich zu Beginn erfährt man, dass er krank ist – und man ahnt, dass der gesamte Rest des Films für ihn eine Art Wettlauf gegen diese Krankheit sein wird…


Die Figur eines kranken Arztes fand ich reizvoll. Sie bot mir den Schlüssel für den Zugang zu der romanhaften Dimension, nach der ich suchte. Nebenbei ermöglichte es mir die Figur eines kranken Arztes, fast beiläufig das Problem der medizinischen Versorgungwüsten zu thematisieren, ohne es allzu frontal anzusprechen. Hierbei ging es auch um das das grundlegende Problem der Nachfolge und der Weitergabe von Wissen. Der Umstand, dass er krank ist, lässt dem Landarzt ja gar keine andere Wahl, als sich von jemandem assistieren zu lassen. Man zwingt ihm eine Vertreterin förmlich auf. Und an diese Ärztin wird er nun sein ganzes Wissen weitergeben müssen…


In der ersten Zeit behandelt er sie sogar ziemlich herablassend…


Er stellt sie auf die Probe. Er ist ein Mann, der schon seit Langem alleine lebt und es gar nicht lustig findet, wenn jemand anderes in seinem Revier aufkreuzt. Außerdem ist er krank, und er will nicht, dass das herauskommt. Diese Frau stellt für ihn folglich von Anfang an eine Gefahr dar. Sein herablassendes
Benehmen ihr gegenüber hält jedoch nicht lange an, als ihm klar wird, dass die Frau einiges drauf hat: Er merkt, dass er sie vielleicht noch brauchen wird… Man darf natürlich auch nicht vergessen, dass Werner sehr selbstlos ist: Er gibt sein Wissen gerne weiter.

 


Ihr Film scheint mehrere Stilebenen in sich zu vereinen: Zum einen zeugt er von einem realistischen, fast schon naturalistischen Ansatz, zum anderen von einem geradezu dokumentarischen Blick – das Ganze verwoben mit einem Handlungsstrang wie aus einem Roman…


Ich verspürte das dringende Bedürfnis, mit ebenso kundigem wie präzisem Blick auf die Lücken in der öffentlichen Gesundheitsversorgung hinzuweisen, gleichzeitig aber auch eine Geschichte zu erzählen. Ich strebe weder Thesenfilme noch Intimdramen an, vielmehr will ich beides miteinander verknüpfen.
Im Grunde erzähle ich am liebsten Geschichten von Gefühlsdramen, die sich innerhalb eines solide recherchierten und realistischen Milieus abspielen. Gerade die Konfrontation dieser beiden Elemente liefert mir das Material und die Inspiration für meine Filme.

 


In gleicher Weise thematisieren Sie in Ihrem Film auch Probleme wie das der Gleichheit beim Zugang zur Gesundheitsversorgung und des Rechts, zuhause sterben zu dürfen…


Ganz klar! Das Problem bezüglich des Rechts, zuhause sterben zu dürfen, wird im Film unumwunden angesprochen. Und auch die Frage, wie auf dem Land häusliche Pflege zu organisieren wäre, hängt letztlich von einer politischen Entscheidung ab…

 


Werner überreicht Nathalie eine Ausgabe von Michail Bulgakows „Aufzeichnungen eines jungen Arztes“, eine sicherlich sehr bewusst gewählte Referenz. Haben Sie sich für diesen Film auch von anderen Werken inspirieren lassen?


In der Tat liebe ich Bulgakows Arztgeschichten sehr. Auch John Bergers Buch „Geschichte eines Landarztes“ hat mich sehr inspiriert. Marianne Denicourt war es, die es mir zu lesen gab. Dann gab es auch noch einen Photoband, nämlich „Médecin de campagne“ von Denis Bourges, der für mich und meinen Kameramann eine wichtige Inspirationsquelle war. Im Vorwort zu diesem Band, das von Martin Winckler verfasst wurde, heißt es: „Landarzt zu sein, heißt Wurzeln zu schlagen, auch wenn man in der Stadt groß geworden ist und viel gereist ist. Man passt sich an den Rhythmus, den Zungenschlag, die Gepflogenheiten der jeweiligen Umgebung an. Man ist nicht nur Heiler von Krankheiten und Ansprechpartner für Kummer aller Art, vielmehr wird man auch Zeuge landschaftlicher Veränderungen, von Ereignissen im Dorf, von Abschied und Ankunft. Man ist Teil der Umgebung und der Gemeinschaft. Man gehört immer mehr selbst dazu.“ Auch hiervon handelt mein Film.