Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 8. September 2016, Teil 6
aus dem Filmheft
Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Was hat Sie daran gereizt, die Rolle eines Landarztes zu übernehmen? Haben Sie ein besonderes Verhältnis zur Medizin?
Ich wollte immer ein Schauspieler sein, dem es weniger ums Spiel als vielmehr ums Leben geht. Darum, Rollen auszuleben. So habe ich mich mittlerweile in zahlreiche Lebensfragmente hineinbegeben, die sich für mich aber immer wie ein ganzes Leben anfühlten. Die Vorstellung, mir zur Abwechslung einmal
einbilden zu können, Arzt zu sein, war ein Traum für mich. Ich glaube, dass viele Leute diesen Beruf faszinierend finden. Letztendlich hat mich aber die Begegnung mit Thomas Lilti überzeugt. Er ist ein außergewöhnlicher Mensch und ein sehr aufmerksamer Zuhörer. Bestimmt ist er auch ein hervorragender Arzt gewesen, denn sonst wäre er kein so grandioser Regisseur geworden. Ich hegte immer große Bewunderung für Ärzte, die sich später dem Kino, der Literatur oder dem Theater zuwandten. Tschechow fällt einem da auf Anhieb ein. Es ist interessant zu beobachten, wie sich Wissenschaftler für das Künstlerische erwärmen können…
Und schließlich war da ja auch noch die Figur, dieser Dr. Werner, der selbst krank ist, eigentlich mal an sich denken müsste und schleunigst das Weite suchen sollte. Aber nein, sein Pflichtgefühl und sein Ethos, als ginge es um ein heiliges Amt, sind einfach stärker. In dieser Hinsicht ist der Beruf des Arztes dem des Schauspielers durchaus verwandt: Auch bei uns spielen Berufung, Leidenschaft und Aufopferungsbereitschaft eine gewisse Rolle, und das kann fast schon zwanghafte Züge annehmen.
Sie sind die perfekte Verkörperung des Landarztes, was etwa seine Gestik, seine Bereitschaft zum Zuhören, seinen Blick und sein Verhältnis zu anderen betrifft. Wie haben Sie es geschafft, sich so tief in diese Figur hinein zu fühlen?
Die Rolle ist einfach großartig – dankbar und subtil zugleich. Ein kranker Arzt, der sich nur um die anderen kümmert! Ein echter Altruist! Diese Selbstaufopferung ist auch für unseren Beruf ganz wesentlich: Man darf die Zuschauer nämlich nie für dumm verkaufen. Folglich müssen die Emotionen
erst erfühlt werden, bevor man sie zum Ausdruck bringt.
In dieser Rolle verzichten Sie auf jedes verführerische Gehabe. Als würden Sie es sich verbieten wollen, sich in Nathalie zu verlieben. Ein einsamer Wolf eben…
Dieser Arzt ist zu integer, um so etwas nötig zu haben. Und als Schauspieler misstraue auch ich der Verführung. Ich könnte versuchen, alle Welt zu verführen – ja sogar Sie, indem ich Ihnen das beste Interview verspreche! Aber das wäre nur eine Form von Kosmetik, letztlich nichts anderes als reinster Narzissmus und Egozentrik. In der Geschichte, die der Film erzählt, bin ich allein. Und ich bin krank. Als Nathalie erscheint, schleudere ich ihr entgegen: „Wer hat Sie denn geschickt? Das ist nichts für Sie, vergessen Sie es!“ Und noch besser bei ihrem ersten Fehler: „Raus! Scheren Sie sich fort!“ Als würde der Beruf mehr als alles andere zählen. Das kann man aber bei allen von Leidenschaft beseelten Menschen beobachten.
Thomas Lilti und Marianne Denicourt betonen übereinstimmend, dass Sie viel zur Teamarbeit beigetragen haben. Zum Beispiel in Gestalt von Leseproben mit allen beteiligten Darstellern, oder auch mit der Idee, jegliche Interpunktion aus dem Drehbuch zu streichen. Sind Sie immer so ein Teamplayer?
Ich komme vom Theater, wo man bestens weiß, dass das Ergebnis niemals von einem einzigen Schauspieler abhängt. Ich fühle mich nur im Team wohl und bin der Ansicht, dass man sich nur im Zusammenspiel mit anderen selbst übertreffen kann. Es geht ja nicht darum, sich in seinem eigenen Glanz zu sonnen! Schon im Theater habe ich gelernt, dass es vor allem darauf ankommt, Vertrauen zu sich selbst und zu den anderen zu entwickeln, und dass letzten Endes nicht die Arbeit des Einzelnen, sondern die des Kollektivs zählt. Man ist ja kein Deus ex machina, der durch sein bloßes Auftreten ein Bühnenstück oder einen Film plötzlich in hellerem Licht erstrahlen lässt. Vielmehr gilt die Devise: „Je besser du bist, umso besser werde auch ich sein.“
Mit Marianne Denicourt war ich mir in diesem Punkt absolut einig. Was auch immer sie beigetragen hat, stets geschah es im Interesse des Films. Und wir waren beide froh darüber, einen wirklichen Partner als Gegenüber zu haben. Nach meiner Überzeugung ist die Vorbereitungsarbeit extrem wichtig. Sobald diese erledigt ist, empfinde ich den Rest nicht mehr als Arbeit: Ich lebe dann nur noch in meiner Figur und kümmere mich ansonsten allenfalls um die Stimmung am Set und um das Wohlbefinden meiner Partner. Die Idee, auf die Interpunktion vollständig zu verzichten, stammt von Peter Brook. Es gibt ja Dutzende von
Möglichkeiten, eine Replik auszusprechen, wenn man die Zeichensetzung beiseitelässt: Es ist dann eine Frage der Eingebung, für welche man sich entscheidet – im Grunde ein Spiel, bei dem man seiner Laune folgt…
Wer ist denn eigentlich dieser Dr. Werner? Was hat er für eine Geschichte? Er hat ja ein Kind und war früher wohl mal liiert…
Ja, und er ist überhaupt nicht suizidgefährdet, sondern eher ein Typ, der total in seiner Sache aufgeht – wie übrigens viele kranke Menschen. Plötzlich beschließt er, dass alles, was ihn noch interessiert, darin besteht, auf immer und ewig seinen Arztberuf auszuüben. Dieses Hinauswachsen über sich selbst
– herrlich! Er liebt die Menschen in seiner Umgebung, und das ist sein Geheimnis.
Trotz aller Widerstände scheint im Verhältnis zwischen Werner und Nathalie aber doch etwas in Gang zu kommen, als der Bürgermeister diesen Unfall erleidet. Sie weiß, wie man ihn zu behandeln hat, er hingegen nicht…
Ja, und da drückt sich mehr aus als bloßer Respekt unter Berufskollegen: Indem sie ihre Kompetenz unter Beweis stellt, erscheint ihm ihre Anwesenheit mit einem Mal gerechtfertigt. Gleichzeitig wird er empfänglich für ihren Charme, für ihr Lächeln, für ihre Weiblichkeit... Und die Anstrengungen, die sie
unternommen hat, um Landärztin zu werden, zeugen ja durchaus auch von Mut – unter diesem Aspekt sind sie geistig gar nicht so weit entfernt.
Dr. Werner wird nur einmal richtig wütend, und da stellt sich ein ethisches Problem ersten Ranges: Gesinnungsethik oder Verantwortungsethik, um all das geht es im Fall des alten Mannes, der bei sich zuhause sterben möchte, den Nathalie aber aus guten Gründen in ein Krankenhaus einweisen will.
Werner ist auch ein moderner Arzt, der den Wert einer sinnvollen Sterbebegleitung verstanden hat. Warum sollte er also diesen Mann von seinem Haus und von seinem Hund losreißen, zumal er ihm doch versprochen hat, ihn, für den keine Hoffnung mehr besteht, bei sich zuhause sterben zu lassen?
DER LANDARZT VON CHAUSSY ist auch ein politischer Film, der das Augenmerk auf jene französischen Landstriche lenkt, die sich zunehmend verwaist fühlen, und das Problem von Ärzten anspricht, die bereit sind, für 23 Euro die Stunde zu praktizieren…
Natürlich ist das auch ein Film mit politischem und sozialem Gehalt, in dem man einige Wahrheiten zu hören bekommt, etwa was die Trägheit der Behörden oder das Problem der medizinischen Versorgungswüsten betrifft. Wenn man in Paris oder in einer anderen großen Stadt lebt, könnte man den Eindruck haben, dass die Ärzte allesamt dem Großbürgertum angehören, am Boulevard Saint Germain ihre Praxis haben und dort 150 Euro für jede Sprechstunde kassieren. Die Wirklichkeit sieht aber ganz anders aus!
Haben Sie zur Vorbereitung auf diese Rolle Bücher gelesen oder bestimmte Filme gesehen?
Ich habe eher eine Art Innenschau betrieben. Als Kind hatte ich das Glück, an Ärzte geraten zu sein, die mich vom Asthma geheilt haben; außerdem war ich – wie viele andere auch – mit schweren Krankheiten einiger naher Verwandter konfrontiert. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich mir aus der Nähe ein Bild davon machen, was einen guten Arzt oder eine gute Ärztin ausmacht: absolute Hingabe nämlich. Umgekehrt habe ich mich aber auch an schlechte Ärzte erinnert: Einer zum Beispiel wollte einem Freund von mir partout eine Röntgenaufnahme seiner Lunge verweigern, obwohl dieser ihn seit Monaten darum gebeten hatte. Am Ende willigte der Arzt mit der Bemerkung ein: „Ich verwette ein Bonbon darauf, dass Ihnen nichts fehlt!“ Also lässt sich mein Freund röntgen, wobei sich herausstellt, dass er einen unheilbaren Krebs hat. Daraufhin ruft er erneut den Arzt an und hinterlässt auf seinem Anrufbeantworter folgende Nachricht: „Sie haben die Wette verloren und schulden mir jetzt ein Bonbon!“ Der Humor meines Freundes, der es im Angesicht seines Todes bei dieser lakonischen
Bemerkung beließ, machte mich sprachlos…
Die Wahrheit ist, dass auch ich früher davon träumte, einmal Arzt zu werden. Als Schauspieler hat man allerdings mehr Möglichkeiten, alles zu erleben!