Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 15. September 2016, Teil 6
Claudia Schulmerich
Frankfurt am Main (Weltexpresso) – Im besten Sinne ein Familienfilm ist Fatih Akin mit der Verfilmung des Kultbuches von Wolfgang Herrndorf aus dem Jahr 2010 – allein in Deutschland über eine Million Leser, in viele Sprachen übersetzt – gelungen, der im übrigen gleichzeitig ein völlig eigenständiger Film ist, der von intensiven Bildern lebt, die man lange im Gemüt behält.
Alleine die ausgelassenen Runden der beiden Ausreißer Maik und Tschick im geklauten Lada – natürlich haben die beiden 14jährigen keinen Führerschein- , mit der sie ein normales Feld – war es Mais? - zu einem Produkt von land art machen, wie man diese Kunst nennt, die vor Jahrzehnten Furore machte und in TSCHICK Wiederauferstehung feiert, allerdings ohne den Kunstwillen von damals, aber dafür mit der Lebensfreude zweier Pubertierenden. Ja, es müssen wohl Jungen sein, die so ein Ding drehen, wie diese beiden, Außenseiter in ihrem Schulalltag, aber verwegen genug, sich - nach dem letzten Schultag vor den Ferien - auf den Weg zu machen, wenn es zu Hause zu tröge, zu einsam, zu undurchsichtig ist.
Was Herrndorf mit Worten beschwört, zeigt Akin mit Bildern und zum großen Teil dem Roman entnommenen Dialogen, die eine Einheit eingehen, so daß Bild und Ton eine Synthese ergeben, die uns Zuschauern mitteilen, man muß sich nur auf den Weg machen und schon wird man ein anderer. Denn glaube keiner, daß dieser Mail derselbe Junge ist, der zu Hause bei seinen finanziell undurchsichtigen Eltern lebt, die jeder für sich ein Hobby haben, der Vater treibt es mit einer anderen, natürlich jüngeren, die Mutter trinkt, wobei man nicht weiß, ob das eine mit dem anderen zu tun hat. Maik wird zusammen mit Tschick also ein anderer, aber wer ist eigentlich Tschick?
Seine Familie bleibt hier unbekannt, weil einer wie Tschick auch gar keine braucht, sondern als Sonderfall daherkommt, wobei er in der Verkörperung von Anand Batbileg den allermeisten Erwachsenen Gefühle ihrer eigenen Jugend wiedergibt, wenn man sich trotzig an sich selbst festhält, weil sonst keiner da ist. Und Maik, der doch leicht beeindruckbare Junge, der aber im Inneren ganz gut weiß, was recht und was falsch ist, ist der Anpaßungsfähigere der beiden, ohne ein Weichei zu sein oder sein Mäntelchen nach dem Wind zu hängen.
Also gut, von vorne. Maik (Tristan Göbel) geht ungern zur Schule, gerne nur, wenn er ein ganz bestimmtes Mädchen namens Tatjana anschaut, ungern, weil er keine Erfolgserlebnisse hat. Und als er ernsthaft einen Aufsatz über seine Mutter schreibt, den er der Klasse vorlesen muß, erkennt er als letzter, daß er sich in der wahren Beschreibung seiner Mutter als Alkoholikerin keinen Gefallen getan hat. Erstens wissen das jetzt alle, was man sonst verschweigt, zweitens wird er als Psycho verlacht. Da paßt der asoziale Tschick gut dazu, der seltsame Verhaltensweisen zeigt, die er zur Abwehr dieser gutbürgerlichen Normen der Schule antrainiert hat. Ein Psycho und ein Aso, heißt es dann und das langt eigentlich, um die weitere Handlung zu legitimieren.
Tschick will nämlich in den Ferien nach Hause, in die Walachai. Ob er da wirklich herkommt? Dem Aussehen nach eher nicht, mit seinem russisch-tatarischen Einschlag, aber die Walachai, die eine historische Bezeichnung für eine Region im heutigen Rumänien ist, ist nur ein Synonym für die Fremde, für weit weg sein, für da sein, wo die Probleme des Alltags entfallen. Kein Wunder, daß einem bei TSCHICK sofort Huckleberry Finn einfällt und andere Jugendbücher, die vom Frust der Heranwachsenden erzählten, es den Altvorderen nie recht machen zu können und in vorgefertigte Schuhe einsteigen zu sollen, wo sie doch lieber barfuß unterwegs sein wollen.
Und das tun die beiden, wobei unwichtig ist, daß sie mit dem geklauten Auto nicht weit kommen, denn das, was sie unterwegs erleben, ist Stoff für ein ganzes folgendes Schuljahr, das am Ende der Sommerferien wieder vor ihnen liegt. Aber dann sind sie nicht mehr alleine. Sie haben zumindest sich.
Noch einmal, die Bilder, die Fatih Akin auf die Leinwand bringt, sind von besonderer Qualität und sicher ist eine Lieblingsstelle von Zuschauern diejenige, wie die beiden am Fuße eines überdimensionierten spirligen Windrades mitten in der Landschaft des Nachts auf ihrer Decke schon zum Schlafen ausgestreckt liegen und in den nächtlichen Himmel voll von Sternen starren. Ein Bild der Freiheit, ein Bild der Unendlichkeit, ein Bild von Vertrauen. Uns vertrauensvoll endet auch ihre erst einmal rätselhafte Begegnung mit dem weiblichen Geschlecht in Form von Isa (Mercedes Müller), die auch eine Schlingpflanze sein könnte, oder noch besser: eine geborene Alraune.
Eigentlich paßt sie, die von beiden auf der Müllkippe gefunden wird, oder besser: sie findet die beiden, eigentlich paßt sie gar nicht zu den beiden, ist doch auch älter. Aber das Wunderbare an dieser Erzählung und auch an diesem Film ist, wie alles Unpassende doch passend gemacht wird, nicht indem an den Menschen herumgeschnitten wird, sondern indem einer den anderen leben läßt. Welche Funktion dabei auch die Musik hat, ist eine der weiteren Stärken des Films, der einfach rundherum besonders gelungen ist. Es gibt also auch sehr gute deutsche Filme!