Das 64. Filmfestival in San Sebastián
Kirsten Liese
San Sebastán (Weltexpresso) - Das Unheil kommt leise daher, an einem frühen Morgen in Paris. Scheinbar unspektakulär geraten junge Menschen unterschiedlicher Ethnien und Milieus ins Visier des Betrachters. Sie steigen in die Metro ein oder aus, treiben durch die Straßen, schauen auf die Displays ihrer Mobiltelefone, machen Fotos und werfen schließlich die Handys weg.
Gemeinsam verfolgen sie einen Plan, der die Metropole in ein Inferno verwandeln wird. Zeitgleich kommt es im Innenministerium, in einer Bank, in einem Hotel und einigen Autos zu Explosionen, Paris steht in Flammen.
Bertrand Bonellos markerschütterndes, geheimnisvolles Nocturama war einer der düstersten Wettbewerbsbeiträge auf den 64. Filmfestspielen in San Sebastián, wo Gewalt zu einem zentralen Thema wurde. Unweigerlich fühlt man sich an jenen 13. November 2015 erinnert, als an fünf verschiedenen Orten in der französischen Metropole islamistische Terroranschläge einen weltweiten Schock auslösten, auch wenn Bonello das noch nicht im Kopf hatte, weil die Dreharbeiten vorher stattfanden und es sich bei seinen Verschwörern nicht um Terroristen, handelt, sondern um Revolutionäre, deren Motive sich nur vage erahnen lassen. Jedenfalls ist dem Franzosen ein Werk gelungen, das unsere Zeit zwingend erfasst und brisante schwierige Fragen aufwirft. Beobachtet man die Attentäter im ersten Teil des Films nur unpersönlich aus der Distanz, so kommen sie einem im zweiten Teil menschlich naher, wenn sie sich in einem Luxuskaufhaus verschanzen, wo sie zu nächtlicher Stunde erst zu begreifen scheinen, was sie getan haben und sie die Angst überkommt, die sie mit dekadenter Prasserei überspielen, bis sie die Polizei umzingelt.
San Sebastián empfahl sich in seiner 64. Ausgabe insgesamt mit einer Vielzahl von starken Beiträgen in allen Sektionen. Für starke Emotionen, Hochspannung und Diskussionsstoff war gesorgt.
An schwer verdaulichen Produktionen, in denen es hart zur Sache geht, scheiden sich freilich die Geister, da macht sich mitunter Empörung breit ob der Zumutbarkeit. Das betraf vor allem das polnische Drama Playground, in dem zwei verrohte Jungen gerne Schwächere demütigen und quälen, bis sich schließlich ihr aufgeheizter Sadismus in dem brutalen Mord eines Kleinkinds entlädt. Solch ein Schreckensszenarium wollten Viele in San Sebastián nicht sehen. Dabei muss man dem polnischen Regisseur Bartosz M. Kowalski zugute halten, dass er sein grausames Finale so unvoyeuristisch wie nur möglich inszeniert, optisch aus weiter Entfernung und ganz aus der Totalen.
Der Chilene Fernando Guzzoni ist an der zentralen Gewaltszene seines Dramas Jesús ungleich naher dran mit der Kamera, zeigt, wie eine Bande von betrunkenen Jugendlichen einen gleichaltrigen Homosexuellen, den sie halb bewusstlos nachts in einem Park finden, treten, demütigen und zu Tode prügeln.
Hier wie da mag sich natürlich die Frage stellen, ob man solche Gewaltexzesse explizit zeigt, oder sie so thematisiert oder andeutet, dass die Bilder im Kopf entstehen wie beispielsweise in dem Kammerspiel Der Kick von Andres Veiel (2006), das nach einer wahren Begebenheit in Gesprächsprotokollen nachzeichnet, wie jugendliche Neonazis einen Außenseiter zu Tode foltern.
Das mag unzweifelhaft der ethisch bessere, elegantere Weg zu sein, aber um ehrlich zu sein, geht Jesús mit seiner Radikalität und einer ungleich packenderen Dramaturgie stärker an die Nieren. Guzzoni belässt es allerdings auch nicht bei einer ohnmächtigen Zustandsbeschreibung einer verkommenen, verlorenen Jugendgang, der Fokus liegt auf dem spannungsreichen Konflikt zwischen dem Titelhelden und seinem Vater. Der Alte sorgt sich um den 18-jährigen Filius, appelliert immer wieder an ihn, die unberechenbaren, brutalen Kumpel, die enthemmt ihre Aggressionen ausleben, zu meiden, endlich zur Schule zu gehen und etwas Sinnvolles in Angriff zu nehmen. Aber seine gut gemeinten Ratschläge prallen an Jesús ab, den zu spät die Reue überkommt.
Jesús war nicht der einzige Film, der die Ohnmacht besorgter Eltern beschreibt, die alles tun würden, um ihre Kinder vor dem Verderben zu retten, dabei aber hoffnungslos scheitern. So erzählt etwa auch der Isländer Baltasar Kormákur in seinem nervenaufreibenden Thriller The Oath von einem Herzchirurgen, der nicht länger mit ansehen will, wie seine Tochter ihr Leben an der Seite eines skrupellosen Drogendealers ruiniert. In seiner Ausweglosigkeit und im Stich gelassen von der Polizei, übt er sich mit grausamen Methoden in Selbstjustiz.
Nimmt man noch einen weiteren aktuellen Film dazu, der jüngst in Locarno zur Weltpremiere kam und von verzweifelten Müttern erzählt, deren Töchter sich von ihnen nicht aufhalten lassen, sich im Internet für den Islamischen Staat rekrutieren zu lassen (Le ciel attendra), offenbart sich das erschreckende Ausmaß virulenter Generationskonflikte, denen das Kino gerade zielsicher auf den Nerv fühlt.
Aber auch einer Jury, die sich mit schwer verdaulichen Szenen schwer tut, stellten sich in San Sebastián bessere Alternativen als die Filme, die sie mit den wichtigsten Preisen auszeichneten. Insbesondere der chinesische Beitrag I Am Not Madame Bovary, der die Goldene Muschel für den besten Film gewann, galt so ziemlich als das Schlusslicht im Wettbewerb. Weidlich dröge, langatmig und kommt diese Geschichte einer jungen Frau daher, die von ihrem Mann betrogen wurde und versucht, gegen das Rechtssystem aufzubegehren. Dabei interessiert sich der Regisseur Xiagong Feng noch nicht einmal für die psychischen Konflikte und Abgründe seiner Heldin, so dass das Interesse an dieser Figur rasch erlischt.
Ungleich intensiver identifiziert man sich mit William Oldroyds Lady Macbeth, die unter der Tyrannei ihres Schwiegervaters und ihres Ehemannes derart leidet, dass sie nacheinander beide Männer ermordet, was der Film aber nur andeutet, und sich in die flüchtige Leidenschaft mit einem Arbeiter rettet, mit dem ihr jedoch kein dauerhaftes Glück beschieden ist. Der Brite orientiert sich weitgehend an Nikolai Leskows Novelle Lady Macbeth von Mzensk, lässt seine Geschichte aber weniger düster ausklingen, Verbannung und Selbstmord erspart er seiner Heldin.
Foto: (c) sansebastianturismo.com
Info: 64. Filmfestival in San Sebastián vom 16. bis 24. September 2016