Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 29. September 2016, Teil 14
Filmheft
München (Weltexpresso) – Michael von Cranach ist der historische und medizinische Berater von NEBEL IM AUGUST. Das ist schon allerhand, daß ein Film eine solche Beratung braucht. Aber gerade hier bietet sich das nicht nur an, sondern war für die Glaubwürdigkeit des Filmgeschehens wichtig.
Sie haben die Geschichte des Ernst Lossa wiederentdeckt. Wie sind Sie darauf gestoßen?
Ich wurde 1980 Leiter des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren. Schon in den ersten Tagen war ich erschüttert über die schwierige Situation dort. Über diesem Krankenhaus lag etwas, das ans Licht gehörte. Das war ja alles vergessen und verleugnet. Wir sind dann in die Archive gegangen und haben angefangen Krankengeschichten zu lesen.
Darunter die Geschichte von Ernst Lossa.
Als ich die Krankenakte in Händen hielt, war ich von diesem Bild des Jungen tief beeindruckt. Das war bewegend, denn er schaut so wissend. In der Akte hat mich vor allem die Passage fasziniert, dass er Lebensmittel an Patienten verteilte – wissend, dass Hungerkost
eingeführt worden war. Als ich dann später die Akten über den Prozess gegen den Klinikleiter Dr. Faltlhauser gelesen habe, traf ich wieder auf Ernst Lossa. Die Amerikaner haben Zeitzeugen zu ihm befragt, so dass wir auch aus dieser Zeit viele Aussagen über ihn haben.
Alle Ordensschwestern sagten aus, dass er ein liebenswürdiger Bub war.
Wieso kam er in die Psychiatrie?
Er war eher nicht psychisch krank, er hatte wahrscheinlich noch nicht mal das, was wir heute ADHS nennen. Es bestanden wohl Erziehungsprobleme aufgrund seiner schwierigen Lebensgeschichte. Deshalb kam er vom Waisenhaus in die NS-Erziehungsanstalt Markt Indersdorf. Dort wurde er als schwierig und störend empfunden. Eine Ärztin des Kaiser-Wilhelm-Instituts untersuchte ihn und bezeichnete ihn in ihrem Gutachten als „asozialen Psychopathen“. Wahrscheinlich hatten die Heimleiter der Ärztin gesagt, dass sie mit ihm nicht zurechtkämen. Durch ihre Diagnose wurde er zum psychiatrischen Patienten und in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren eingeliefert.
Wer entschied dort über sein Leben?
Die Ärzte in den Kliniken entschieden über Leben und Tod der erwachsenen Patienten, bei Kindern war Berlin an der Entscheidung beteiligt. In dieser Zeit der dezentralen „Euthanasie“ hatten die Ärzte sehr große Entscheidungsräume, ab 1942 wurde alles sehr willkürlich. Kein Psychiater hätte schwerwiegende Nachteile gehabt, wenn er offen gesagt hätte: Das ist Mord. Aber da gab es nur sehr vereinzelt Widerstand. Niemand hat unter Druck getötet.
Was waren die Motive der Ärzte?
Viele waren begeisterte Nationalsozialisten. Ein weiterer Grund war: Die Behandlungsmethoden waren sehr eingeschränkt und die Ärzte wollten nicht mit ihrem Versagen konfrontiert werden. Sie entwickelten großen therapeutischen Elan. Sie fragten sich: Wer ist behandlungsfähig und wer nicht? Wer ist bildungsfähig und wer nicht? Und da war die Frage nicht fern: Wer ist lebenswert und wer nicht? Es bestand eine enge Beziehung zwischen Heilen und Vernichten.
Töteten die Ärzte also vermeintlich unheilbare Patienten, um für andere größere Kapazitäten zu haben?
Zunächst war es ein psychologisches Motiv: Sie wollten nicht mit der eigenen Ohnmacht konfrontiert werden – und die Bedingungen in den Anstalten waren katastrophal schlecht. Außerdem war die Teilnahme an der „Euthanasie“ karrierefördernd, viele Ärzte fühlten sich als Teil der Avantgarde der Welt. Und dann ging es darum, die Minderwertigen zu vernichten, weil sie kosteten und „unnütze Esser“ waren. Das hatten Karl Binding und Alfred Hoche schon 1920 gefordert, in ihrem Buch „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ – und nun wurde es möglich. Arbeitsfähigkeit, also ein ökonomischer Gesichtspunkt, war das Hauptselektionskriterium.
War die „Euthanasie“ also nicht die radikale Weiterführung der Zwangssterilisationen, die 1933 per Gesetz angeordnet wurden? Deren Zielpunkt war eine künftige Gesellschaft ohne „erbkranke Elemente“.
Nein. Früher hat die Forschung einen engen Zusammenhang zwischen Zwangssterilisationen und Krankenmorden gesehen, heute sehen wir es etwas anders. Die Psychiatriepatienten waren ja Menschen, die in Anstalten lebten und keine Chance auf Fortpflanzung hatten. Die „Euthanasie“ hatte anders als die Zwangssterilisationen wenig mit Eugenik zu tun.
Wie wurden die Ärzte für ihre Verbrechen bestraft?
Unmittelbar nach Kriegsende wurden einige Verantwortliche von den Alliierten angeklagt und zu Tode verurteilt. Danach übergaben die Alliierten die Justiz den Deutschen. Da ließ das Interesse, die Taten zu verfolgen, nach. Es gab Ende der 1940er, Anfang der 1950er etwa 30 Prozesse, die sind alle ähnlich verlaufen. Dr. Faltlhauser, der Klinikleiter von Kaufbeuren, wurde wegen Beihilfe zum Totschlag in minder bedeutenden Fällen zu drei Jahren Haft verurteilt. Das war eine übliche Strafe. Er musste sie nicht antreten, und selbst
seine Rente bekam er vom Innenminister auf dem Gnadenweg wieder zuerkannt. Die Mehrheit der Täter blieb in den Kliniken tätig. Viele „T4“-Gutachter sind prominente Psychiater geworden.
Und in der Gesellschaft wurde das Thema verschwiegen.
Es gab keine Kläger. Die Angehörigen der ermordeten Patienten waren verunsichert, sie hatten keine Lobby und keine Unterstützung. Sie schämten sich vielleicht auch oder hatten Schuldgefühle, dass sie ihre Angehörigen nicht nach Hause geholt haben. Oder sie hatten
Angst, als Angehörige eines psychisch Kranken aufzutreten.Psychische Erkrankungen waren stigmatisierend und sind es noch heute.
Kann man aus der Geschichte der NS-„Euthanasie“ für die Sterbehilfe-Debatte und andere aktuelle Diskurse etwas ableiten?
Man kann zeigen, wie schnell der Gedanke der „Euthanasie“ – also des „Gnadentodes“ für unheilbar Kranke – pervertieren kann. Deshalb sind wir Deutsche in der Debatte um Sterbehilfe und Biopolitik in Europa am zurückhaltendsten, und das ist in meinen Augen gut so. Wir sollten darüber nachdenken, das Konzept der Behinderung zu hinterfragen. Was wir Behinderung nennen, könnte auch als Ausdruck der Vielfalt des menschlichen Daseins gesehen werden.
Foto: Michael von Cranach (c) Filmheft
Info: NEBEL IM AUGUST
Regie: Kai Wessel
Drehbuch: Holger Karsten Schmidt
nach Motiven des gleichnamigen Tatsachenromans von Robert Domes
mit
Sebastian, Koch, Fritz Haberlandt, Henriette Fonfurius, David Bennent, Karl Markovics
und Ivo Pietzcker als Ernst Lossa
Eine Ulrich Limmer Produktion u.a. STUDIOCANAL Film