Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland von 1949 bis 1963, Teil 1

Helga Faber

Frankfurt am Main (Weltexpresso) - Im Sommer wurde sie vorgestellt, die Filmreihe KINO DER JUNGEN BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND, als das Filmfestival von Locarno noch vor uns lag. Nun läuft die vom Deutschen Filminstitut mitveranstaltete Erfolgs-Retrospektive aus Locarno jetzt auch in Frankfurt. Dabei sind echte Raritäten und große Entdeckungen.

 
Als "größte und wichtigste Filmreihe der vergangenen Jahre" bezeichnet Direktorin Claudia Dillmann die Retrospektive zum bundesdeutschen Nachkriegskino, die im Oktober und November im Kino des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt zu sehen sein wird. Schon bei ihrer Premiere vor einigen Wochen während des renommierten Festival del film Locarno hatte die vom Deutschen Filminstitut mitveranstaltete Retrospektive für große Aufmerksamkeit gesorgt: Fachpublikum und Festivalbesucher waren überrascht und begeistert von der Auswahl und den vielen "sensationelle[n] Wiederentdeckungen" (Kirsten Liese, ray Filmmagazin) und ebenfalls in Weltexpresso, die das Programm bereithielt. "Großartig und irritierend", resümierte der Tagesspiegel.

Nun kommt die Retrospektive nach Frankfurt. Weitere Stationen sind die Schweiz, Italien, Portugal und Finnland sowie zum Abschluß der Tour 2017 Washington sowie das Lincoln Center in New York. Neben den wichtigsten in Locarno gezeigten Werken enthält die Auswahl im Kino des Deutschen Filmmuseums eine große Zahl weiterer entdeckungswürdiger Filme. Das Team des Filmmuseums hat mit großem Aufwand seltene 35mm-Kopien aus zwölf Archiven zusammengetragen. Insgesamt besteht das Programm aus rund 30 Lang- und zehn Kurzfilmen, die als thematisch, stilistisch oder atmosphärisch passende Vorfilme viele Hauptfilme kommentieren. Zu allen Filmen wird es Einführungen von Mitarbeitern des Filmmuseums und von Gästen geben, darunter etliche Autorinnen und Autoren des schon als "Standardwerk" (FAZ) bezeichneten Begleitbuchs. So werden unter anderen im Oktober der Filmemacher Rainer Knepperges und der Soziologe und Tongestalter Fabian Schmidt (etwa von TONI ERDMANN, DE/AT 2016, R: Maren Ade) zu Einführungen nach Frankfurt kommen.

"Das Publikum der Retrospektive erwarten Raritäten, die sonst weder im Kino noch auf DVD zu sehen sind eine einmalige Gelegenheit", betont Claudia Dillmann. Anliegen der Schau ist es zu zeigen, dass das Kino der Adenauer-Ära sich bei genauem Hinsehen als vielgestaltiger, ambivalenter und brüchiger erweist als gängige filmhistorische Erzählungen glauben machen; dass es politischer und poetischer, ästhetisch ambitionierter und abgründiger, wilder, bizarrer und sinnlicher war als sein Ruf. Schon 1989 hat das Deutsche Filmmuseum mit "Zwischen Gestern und Morgen. Der Westdeutsche Nachkriegsfilm 1946 bis 1962" eine einflussreiche Ausstellung und Filmreihe präsentiert, die erstmals wieder die Aufmerksamkeit auf das Kino der Adenauer-Zeit lenkte. Damit nahm es eine Kino-Ära in den Blick, die in ihrer Zeit, den 1950er und 1960er Jahren, immens populär war, mit dem Verdikt der Oberhausener im Jahr 1962 („Papas Kino ist tot) aber geschmäht wurde. „Nie wieder war der westdeutsche Film so vielseitig, schrieb Rüdiger Suchsland jetzt anlässlich der Retro über dieses Kino, in dem Kunst und Kommerz neben- und miteinander existierten. „"ie vergessene Geschichte dieses Kinos hat es verdient, erzählt zu werden."

Eröffnet wird die Retrospektive mit zwei Meisterwerken: Helmut Käutners SCHWARZER KIES, für den er 1962 kurioserweise den "Preis der Jungen Filmkritik für die schlechteste Leistung eines bekannten Regisseurs" erhielt, und Harald Brauns DER GLÄSERNE TURM. Die Frankfurter Auswahl enthält jene Filme, die in Locarno am meisten für Furore sorgten, darunter Hans H. Königs ROSEN BLÜHEN AUF DEM HEIDEGRAB und Wolfgang Staudtes KIRMES. Kurator Olaf Möller hat für die Filmauswahl im Deutschen Filmmuseum außerdem einen starken Akzent auf den Heimatfilm gelegt: ein genuin bundesrepublikanisches Phänomen, das bislang in seiner Komplexität und Bedeutung kaum gewürdigt wurde. So unterschiedliche Werke wie Richard Häußlers DAS DORF UNTERM HIMMEL, Wolfgang Liebeneiners WALDWINTER GLOCKEN DER HEIMAT oder Staudtes ROSE BERND demonstrieren nachhaltig, dass in dieser oft als bloß idyllisch und versöhnlerisch verschrienen Bilder- und Ideenwelt tatsächlich die großen gesellschaftlichen Kampfzonen der Nachkriegszeit mit einer immer wieder erstaunlichen Energie und Exaktheit vermessen wurden: Geschlechter- und Besitzverhältnisse, Flucht und Verfolgung, Fremdenfeindlichkeit, aber auch die ganz grundsätzliche Frage danach, was Heimat ausmacht.

Die Auswahl ist heiter gestimmt, mit einem Zug zur Frivolität. Das zeigen so unterschiedliche Titel wie Paul Martins DIE FRAUEN DES HERRN S., Kurt Hoffmanns KLETTERMAXE, Paul Mays DIE LANDÄRZTIN oder Hans Schott-Schöbingers NACKT, WIE GOTT SIE SCHUF. Wer sich die Zeit nimmt, die Reihe möglichst umfassend in Augenschein zu nehmen, dem helfen diese Filme vielleicht, das Idiosynkratische, Unerwartete, Legere, Verwegene in strenger wirkenden Werken wie Harald Brauns NACHTWACHE oder Rolf Hansens AUFERSTEHUNG zu erkennen. Es ist ein lebendiges, vielschichtiges, reiches Kino, das in einem so intensiven Dialog mit seinem Publikum stand, wie man es seither nicht mehr gesehen hat.


Die Reihe wird im November mit Filmen wie DIE ROTE (BRD 1962) und VIELE KAMEN VORBEI (BRD 1956) sowie weiteren Gästen im Kino des Deutschen Filmmuseums und auch in der Caligari FilmBühne, Wiesbaden, fortgesetzt.
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