LIEGENGEBLIEBEN. NACHGEHOLT. Film 1
Filmheft
Brüssel/London (Weltexpresso) - Weil wir von dieser Regisseurin sicher noch viel hören werden, wollen wir gerne schon zu ALLE KATZEN SIND GRAU das im Filmheft veröffentlichte Interview mit der Regisseurin abdrucken.
Die Figur von Paul ist nicht für diesen Film entstanden. Ist er ein alter Freund von Ihnen?
(Lachen) Kann man so sagen. Ich kenne ihn schon lange.Bevor ich 1999 nach England ging, hatte ich das Tagebuch eines Amateurdetektivs geschrieben. Das war ein arbeitsloser Single, der überall seine Nachforschungen anstellte und sich herumtrieb, um die Leere in seinem Leben auszufüllen.
In seinem Notizbuch führte er eine Untersuchung, warum das Krankenhaus der Deux (Zwei) Alice in Brüssel so hieß. Diese Person nistete sich irgendwo in meinem Kopf ein, und als ich anfing, über einen Spielfilm nachzudenken, tauchte sie wieder auf. Paul hat sich im Laufe der Drehbuchentwicklung immer wieder verändert, aber der Kern von dem, was mir an ihm gefiel, ist geblieben: das war der ,Outsider’, einer, der am Rande der Gesellschaft lebt. Einer, der großzügig ist, ein großes Herz hat, und trotzdem einsam ist. Die Idee, dass er eine Tochter haben könnte, die er gar nicht kennt, ist ganz am Anfang der Drehbucharbeit mit Matthieu de Braconier entstanden, um dieser Einsamkeit nachzugehen.
Was ist trauriger als ein Einsamer, der einen super netten Vater abgegeben hätte, aber sich damit abfinden muss, sein Kind von ferne zu betrachten, ohne erkannt zu werden?
Sie haben 7 Jahre in England gelebt, wo Sie an der National Film School studiert haben (noch dazu betreut von Stephen Frears), und haben dort auch als Regisseurin gearbeitet. Wie hat England Sie beeinflusst, und auch die Arbeit am Drehbuch, die dort begonnen hat?
Das, was ich an England bewundere, ist der Zugang zum Regieberuf. Dort ist das Kino zwar auch eine Kunst, aber es ist vor allem ein Handwerk. Man lernt das Handwerkszeug des Regisseurs. Das ist manchmal schwerer auszumachen, als bei anderen Teamleuten, wo es offensichtlicher ist, wie die Kamera beim Kameramann, aber es ist da, und es ist immer konkret. Ich mag die ’pragmatische’ Art der Engländer, an die Dinge heranzugehen.Das Ziel war, einfache Antworten auf die Fragen der Inszenierung zu finden.
Früher hatte ich den Eindruck, ich müsste alles intellektuell erklären, und meine Antworten wären interessanter, wenn sie sich auf komplexe Überlegungen stützen würden. Obwohl jemand wie Stephen Frears sich nie eine Theorie zu irgendetwas machte. Während des Drehs der Übungsfilme gab er sich mit einem Lächeln zufrieden, wenn man große Theorien über die Einstellungsposition entwarf, und sagte einfach: „Du kriegst es nur von hier (dem Ort, wo er während der Proben stand), von hier sieht man die Szene wirklich gut.“
Auf der Ebene des Drehbuchs waren Matthieu und ich beeinflusst von Filmen, die wir lieben, und das waren meist die Filme des englischen Independent-Kinos. Es gibt dort eine Tradition des wirksamen Erzählens. Wir wollten einen Film schreiben mit einem Rhythmus, wo etwas passiert, mit Wendungen…Kein kontemplativer Film. Übrigens war die schwierigste Arbeit am Drehbuch, zu kürzen; wir hatten zu viele Dinge darin und zu viele Ideen.
Dann sind Sie während der Entwicklung des Projekts „Tout les chats sont gris“ („Alle Katzen sind grau“) von London, wo Sie gearbeitet haben, nach Brüssel gegangen. Hat die Wahl (von Brüssel) eine Bedeutung?
In den ersten Drehbuchfassungen spielte sich die Geschichte in den Vororten von London ab und hieß: „Der Detektiv“. In dieser Phase des Drehbuchs fehlte etwas an der Struktur der Geschichte, sie war noch nicht verankert. Die Vorstellung, den Film in Belgien spielen zu lassen, insbesondere in Brüssel, in dem Viertel, wo ich selbst aufgewachsen bin, hat zu einer Art Legitimierung geführt, und auch zu einer gewissen Wahrheit.Zumal unsere Geschichte komplex war, was die Struktur des Drehbuchs anging, und die Ausgangsidee (ein Privatdetektiv, bei dem die eigene Tochter anklopft, um ihren Vater zu suchen) etwas Schräges und Witziges hatte, wie manchmal im wirklichen Leben … Man sollte das glauben.
Damit die Idee funktionierte, damit man die Situation wirklich glaubte, musste das, was sie ausmacht (der Ort, die Familie, die Personen, ihre Sprache) so realistisch wie möglich sein. Die Tatsache, wieder in Brüssel zu leben, in die Nähe der Viertel zurückzukehren,
wo ich aufgewachsen bin, hat mich inspiriert. Ich konnte mich auf die Jugend beziehen, die ich dort erlebt hatte. Es ist eine Theorie, die sich hält; man kann nur gut erzählen von dem, was man kennt!
Die Geschichte unterscheidet sich vom französischsprachigen Kino im allgemeinen. Sie spielt in einem wohlhabenden, gutbürgerlichen Milieu, mit einer Person wie Paul, einem Rebell, als Hauptfigur. Kann man darin eine Art Kritik an der „angepassten“ Gesellschaft sehen?
Der Film spielt einfach deswegen in einem bürgerlichen Milieu, weil ich darin aufgewachsen bin. Es war also kein Vorsatz, einen Film über ,das Bürgertum’ zu machen oder eine Kritik darüber. Viele interessante Filme spielen im Arbeitermilieu und in finanziell bescheidenen Verhältnissen, also dieses Feld ist im Kino gut abgedeckt, auch von großen Cineasten.
Es gibt viel weniger Filme, die sich in bürgerlichen Kreisen abspielen, obwohl es da viel zu sagen gibt! Der Film erzählt von einer gewissen Erziehung, die sehr verbreitet ist, die fleißig einen Kult des schönen Scheins kultiviert, und auch viel jüdischchristliches Schuldgefühl …
Die Figur von Dorothy rebelliert dagegen, klammheimlich, zumindest am Anfang, indem sie die Wahrheitssuche auf die Spitze treibt. Die Person von Paul steht außerhalb des Systems und ist mit ihren 45 Jahren noch nah an der Energie zur Rebellion der Jugend.
Wir hatten Lust, von Scheinwelten zu reden, die es in allen Milieus gibt, die aber in der Bourgoisie besondere Formen annehmen. In meiner kleinen Welt gibt es auch eine Kultur des Schweigens; Dinge, über die man nicht spricht. Es ist, als ob die Leute denken, dass etwas verschwindet, wenn man darüber schweigt.
Im Drehbuch ist Dorothy zur Hauptfigur geworden. Eine Jugendliche, und das ist typisch für das Alter, in dem solche Geheimnisse ernsthafte Probleme machen können. Weil die Jugend eine sehr entscheidende und intensive Phase ist, wo man sich sucht und sich definieren muss, um voranzukommen.
Wie haben Sie mit all diesen Elementen das Drehbuch aufgebaut, wie haben Sie die Perspektive gewählt, für die Geschichte von Paul, und die von Dorothy?
Die Frage der Perspektive hat bei diesem Film viele Fragen aufgeworfen und uns bis zum Schnitt verfolgt. Paul war die Ausgangsfigur, der, der wusste, dass Dorothy seine Tochter ist. Aber er war passiv am Anfang der Geschichte. Dorothy hatte keinerlei Zweifel an Paul, aber ihre Figur war vorausschauender, weil sie Antworten auf ihre Fragen suchte. Die dritte Schlüsselfigur war Christine, die Mutter von Dorothy; das war die Gegenspielerin. Die ganze Geschichte baut auf ihrer Position gegenüber der Tochter und der Vergangenheit auf.
Hätte sie von Anfang an ihrer Tochter gesagt, „aber sicher, ich erzähle dir alles“, hätte es keine Geschichte gegeben.
(Lachen) Von Anfang an hat es Matthieu und mich interessiert, eine komplexe Geschichte zu schreiben (aber nicht kompliziert). Und da wir vor allem von menschlichen Beziehungen sprechen wollten, wollten wir auch die Standpunkte aller drei Figuren zeigen. Ein zentrales Thema, von dem wir erzählen wollten, war die Art, wie wir Menschen uns gegenseitig darstellen, um das Leben auszuhalten, und wie manchmal diese unterschiedlichen Darstellungen in Konflikt geraten, besonders im Inneren einer Familie. Deswegen war es wichtig, alle drei Standpunkte zu erhalten … Auch wenn das nicht unbedingt in den Drehbuchlehrbüchern gepriesen wird!
Wir haben uns die Frage immer in Bezug auf die Szenen des Films gestellt; ist diese Szene interessanter aus Pauls Perspektive, oder aus Dorothys? Und die Entscheidung ging immer zum größeren Konfliktpotential z.B. bei der Szene, wo Dorothy und ihre Freundin Claire zum ersten Mal bei Paul klingeln. Es war viel interessanter, aus seiner Perspektive zu sehen, wie die eigene Tochter, die er nie von Nahem gesehen hat, plötzlich vor ihm steht und sich für seinen Beruf als Detektiv interessiert, ohne jeglichen Zweifel daran, was sie verbindet. Schlussendlich war das Spiel mit den verschiedenen Perspektiven das Schwierigste beim Schreiben, aber es hat den Film auch sehr bereichert.
Die Figur von Paul ist eher ernsthaft, fern von dem, was Bouli normalerweise spielt (auch wenn er in letzter Zeit häufiger ernsthafte Rollen spielt). Wie haben Sie mit ihm zusammengearbeitet? Wie hat er die Figur wahrgenommen?
Es ist vielleicht nicht die Art Rolle, in der man Bouli zu sehen gewohnt ist, aber am Ende hat die Person von Paul ihm in gewissen Aspekten stark geähnelt. Im Drehbuch war die Figur noch eher deprimiert, sogar depressiv, einer, der aufgegeben hatte. Er war jemand von Grund auf Gutes, der seine Wutanfälle hatte, der in seiner Jugend Rock und Punk gehört hatte. Als Bouli in das Projekt eingestiegen ist, sind wir zusammen an diese Elemente zurückgegangen. Wir haben daraus eine Person gemacht, die aktiver ist und in ihrer Rebellion steckt, eine Person, der es schwer fällt, die Wut im Zaum zu halten, wegen der Ungerechtigkeiten etc … Er hörte immer noch aktiv die Musik aus seiner Jugendzeit, und er lebte und kleidete sich diesem Stil entsprechend. Bouli hat sich diese Figur angeeignet.
Was Paul durch seine Interpretation gewonnen hat, ist diese Sympathie, die er im Blick hat, diese Großzügigkeit, die er wie sonst keiner hat, und die der Figur etwas Sanftes gegeben hat. Aber keine langweilige Sanftheit, im Gegenteil, etwas Funkelndes, das dem Erwachsenen etwas gibt, dass man Lust hat, mit ihm Zeit zu verbringen. Denn die Herausforderung vom Anfang war nicht offensichtlich; zu glauben, dass zwei Jugendliche Lust hätten, mit einem Typen um die 45, Detektiv, herumzuhängen, den sie unter merkwürdigen Umständen getroffen haben …
Die Arbeit mit den Schauspielern begeistert mich, und ich lasse mich ganz darauf ein. Ich mache gerne Proben, weil man dadurch Sachen austesten kann, ohne sich um das Ergebnis zu kümmern. Und beim Proben nutze ich Improvisationen über die Szenen, um die Charaktere zu entwickeln und ihre Beziehungen zu ergründen. Das ist meine Art, Authentizität aufkommen zu lassen gegenüber dem Künstlichen, das letztlich ein Drehbuch oder die Realisation eines Films immer haben.
Bouli hat mir vertraut, er war offen für meine Art zu arbeiten und hat sich dem Spiel überlassen. Auf diese Weise konnte ich gute Ideen integrieren, die sich durch die Improvisation oder die Diskussion über die Figur, ihre Reaktionen, ihre Antworten etc. ergaben … bis zur Drehfassung. Danach, am Set, stand Bouli total im Dienst des Films, er hat viel riskiert und die emotionalen Nuancen der Szenen wirklich ausgelotet …
und ich finde, das sieht man im Film, er berührt einen sehr …
Manon Capelle ist die einzige nichtprofessionelle Schauspielerin im Trio der Hauptdarsteller, wie kam sie damit zurecht, zusammen mit Bouli Lanners und Anne Coesens, die sehr gefragte Darsteller sind, zu spielen? Und wie kam es dazu, sie statt einer professionellen Schauspielerin zu besetzen?
Da dies ein Film ist, der über die Jugendzeit erzählt, gab es von Anfang an die Idee, richtige Jugendliche zu besetzen, statt Schauspieler um die 20 zu nehmen, die nur jung aussehen. Diese Erfahrung hatte ich schon bei meinem Kurzfilm Strange Little Girls gemacht und damit alles erreicht, was ich mir für das Spiel der Darsteller gewünscht hatte.
Mit Michael Bier, dem Casting Direktor, haben wir ungefähr 300 Mädchen getroffen von denen, die sich auf Anzeigen gemeldet hatten. Über mehrere Monate haben wir uns immer wieder getroffen und die Anzahl weiter reduziert. Am Schluss haben wir mit den Letzten improvisiert. Ich wollte jemand finden, der schon etwas von der Person mitbrachte. So sind wir auf Manon gekommen. Sie hatte nicht alles vom CharakterDorothys, aber sie hatte diese Mischung aus Zerbrechlichkeit und Stärke.
Sie war introvertiert wie die Figur, und gleichzeitig sehr neugierig, konzentriert, intelligent und offen. Gegenüber den professionellen Schauspielern musste sie nichts beweisen. Sie war schüchtern, aber natürlich. Und mit Bouli fühlt man sich gleich wohl. Mit Anne haben sie während der Dreharbeiten eine gewisse Zurückhaltung gewahrt, weil das besser war für ihre Beziehung im Film. Sie sollte sich mit ihrer Mutter nicht allzu wohlfühlen. Manon und ich haben viel Zeit miteinander verbracht, um eine Vertrauensbeziehung aufzubauen. Wir sind die Szenen im Detail durchgegangen, um zu sehen, wie sie sich mit ihren eigenen Vorstellungen der Situationen und Emotionen im Drehbuch annehmen konnte.
Wir haben auch Zeit mit Aisleen verbracht, die im Film ihre beste Freundin spielt, um eine Beziehung zwischen den Mädchen herzustellen. Sie haben sich die Rollen angeeignet und mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten beeinflusst, mit ihrer Erfahrung, was es heißt, heute jung zu sein.
Fotos:
Info:
REGIE:
Savina Dellicour
DREHBUCH:
Savina Dellicour
Matthieu de Braconier
DARSTELLER:
Bouli Lanners: Paul
Manon Capelle: Dorothy
Anne Coesens: Christine