Serie: Die anlaufenden Filme in deutschen Kinos vom 10. November 2016, Teil 6

 

Filmheft

 

Berlin (Weltexpresso) – „Für mich ist DIE MITTE DER WELT im besten Sinne ein Fan-Film“, freut sich Regisseur Jakob M. Erwa. „Es ist der Film eines Fans, der mit Begeisterung das Buch verschlungen hat, und schließlich das Geschenk bekam, es auf die Leinwand bringen zu dürfen.“


Tatsächlich las Erwa den Roman „Die Mitte der Welt“ von Andreas Steinhöfel, der für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert und u.a. ins Englische, Dänische, Polnische und Niederländische übersetzt wurde, bereits kurz nach dessen Erscheinen 1998. „Das Buch hat sich damals sofort in meinem Herzen eingenistet“, schwärmt der Filmemacher. „Die beschriebene Welt, die vielschichtigen Charaktere, die Geheimnisse und auch der selbstverständliche Umgang des eigentlich noch recht jungen Protagonisten Phil mit seiner Homosexualität haben mich damals beeindruckt und tun es auch heute noch. Und nicht nur mich!“

Tatsächlich gab es früh Interesse, den erfolgreichen Roman fürs Kino zu verfilmen. Die Filmrechte waren mehrfach optioniert und einmal sogar bereits verkauft, wie sich Autor Andreas Steinhöfel erinnert: „Der Stoff war begehrt, aber offenbar auch schwierig. Denn alle Versuche, den Roman für den Film zu adaptieren, blieben erfolglos.“ Ungeachtet dessen nahm Erwa – damals noch Student an der Münchener Filmhochschule – schon früh Kontakt zu dem Schriftsteller auf. „Er meldete sich mit regelmäßiger Beharrlichkeit bei mir und fragte nach dem Stand der Dinge“, fährt Steinhöfel fort. „Da er nicht locker ließ, und weil seine TV-Serie tschuschen:power mich von seinem Talent mehr als überzeugt hatte, entschied ich 2011, als die Verfilmungsrechte wieder frei wurden, es ihn probieren zu lassen. Zunächst praktisch entgeltfrei, einfach um zu sehen, was geschehen würde.“

Auch den Produzenten Boris Schönfelder von der Neue Schönhauser Filmproduktion überzeugte Erwa mit seiner Begeisterung für DIE MITTE DER WELT. „Als ich Jakob vor etwas mehr als drei Jahren kennenlernte und er mir von seinem Plan erzählte, den Roman zu verfilmen, dachte ich sofort: Was für ein Teufelskerl!“ gibt der Produzent zu Protokoll, der schon so unterschiedliche Filme wie ANTIKÖRPER, NORDWAND, TOM SAWYER oder SEIN LETZTES RENNEN in die Kinos gebracht hatte. „Jakob hatte es nicht nur geschafft, als Privatperson den Zuschlag für eine Verfilmungsoption zu erhalten, sondern auch inhaltlich die Herkulesaufgabe gemeistert, den vielschichtigen und sehr umfangreichen Roman ‚einzudampfen’ und in ein funktionierendes Kino-Drehbuch zu verdichten. Ich war begeistert und wollte bei diesem Abenteuer sofort dabei sein.“

„DIE MITTE DER WELT ist kein einfacher Stoff für eine Verfilmung, aber mit Sicherheit ist es einer der stärksten und intensivsten Romane der gegenwärtigen deutschen Literatur“, betont Erwa selbst und erklärt außerdem, was ihn an der Geschichte so fasziniert: „Mit viel Liebe und trockenem Humor führt Steinhöfel seine komplexen Figuren durch ein dichtes Geflecht aus Gegenwart und Vergangenheit. Die Wirren des gegenwärtigen Erwachsenwerdens werden stets durch Anekdoten aus der Vergangenheit bereichert und so steuert eine packende Dreiecksgeschichte auf der einen Seite und eine komplizierte Familiengeschichte auf der anderen Seite – jeweils mit ein und dem selben Protagonisten – unaufhaltsam auf ihr gleichermaßen erschütterndes wie erlösendes Ende zu.“
Als Coming-Out-Film will der Regisseur sein Werk nicht verstanden wissen, auch wenn sein Protagonist ein schwuler Jugendlicher ist: „Anders als in den meisten Filmen mit homosexuellen Protagonisten geht es hier nicht um ein Problem mit der sexuellen Orientierung. Im Gegenteil: sehr heutig und unaufgeregt begegnet die Geschichte dieser Thematik. Phils Haltung (‚Ich bin ein ganz normales Landei, vielleicht ein bisschen schwuler als andere, aber sonst Standardausstattung’) zeichnet das Bild einer modernen Jugend, die dem Umgang der 80er- und 90er-Jahre-Filme mit der Thematik der sexuellen Orientierung entwachsen ist.“

„Vielmehr ist DIE MITTE DER WELT eine Geschichte über das Erwachsenwerden“, fährt Erwa fort. „Unser zunächst zurückhaltender und beobachtender Held wird durch die Geschichte erkennen und lernen müssen, dass es mitunter gilt, sich zu konfrontieren. Denn manchmal ist es besser, Fragen zu stellen, auch wenn man schon ahnt, dass die Antworten wehtun könnten.“

Die interessanteste Herausforderung bestand für Erwa sowohl beim Drehbuch als auch in der Inszenierung darin, einerseits der Vorlage gerecht zu werden und andererseits auch ein eigenständiges Kunstwerk zu schaffen. „Ich sehe die Adaption von DIE MITTE DER WELT weniger als Plot-getriebenen, klassisch narrativen, sondern viel mehr als poetischen, atmosphärischen Film mit modernen Elementen“, erklärt er seinen Ansatz. „Die assoziative und fragmentarische Erzählform des Romans sollte auch den Ton des Films bestimmen. Viele Fragen werden im Zuschauer geweckt. Spuren und Antworten dafür zu finden, machte einen Teil des Spannungsbogens aus. Dadurch bleiben wir aufmerksam und versuchen, nichts zu verpassen. Langsam entspinnt sich alles vor den Augen der Zuschauer.“

„Es ging mir insbesondere darum, jene starke Atmosphäre auch filmisch einzufangen, die den Roman so außergewöhnlich macht“, fährt der Filmemacher fort. „DIE MITTE DER WELT sollte eine eigene, unkonventionelle filmische Sprache im Spannungsfeld zwischen poetischen Bildern und modernen Elementen entwickeln und dennoch den Geist, den Ton und die Atmosphäre der wunderbaren Vorlage bewahren.“ Deren Autor zeigt sich ohne Frage zufrieden. „Jakob stürzte sich mit einer Energie und Leidenschaft in die Arbeit, die mich dann doch verblüffte. Entstanden ist ein Drehbuch, das den Geist meines Romans nicht nur wunderbar trifft, sondern meine Geschichte durch eine eigene Handschrift bereichert“, freut sich Steinhöfel. „Mir imponiert die Vision von Jakob und seinem Team!“

Welche Faszination Steinhöfels Roman auch weit über ein Jahrzehnt nach seinem Erscheinen ausübt, zeigte sich nicht nur an den konstant stabilen Verkaufszahlen, sondern auch beim offenen Casting. Weit über 1000 Jugendliche folgten dem Aufruf, mit dem Erwa und seine Mitstreiter nach ihren jungen Darstellern suchten.

Louis Hofmann, der für seine Titelrolle in TOM SAWYER bereits den New Faces Award und für FREISTATT den Bayerischen Filmpreis erhalten hatte, fiel Erwa dabei schon früh ins Auge. „Louis sah ich gleich an unserem ersten Casting-Tag und war begeistert. Ich wusste da schon, dass eigentlich ein Wunder geschehen müsste, wenn mir noch eine bessere Wahl für die Rolle des Phil begegnen würde“, lacht der Regisseur. „Trotzdem war es mir wichtig, noch weitere 1200 Jugendliche anzuschauen. Schließlich möchte man ja am Ende nicht dastehen und sich ärgern, dass man nicht doch noch ein bisschen weitergesucht hat. Aber in diesem Fall wurde ich mir nur von Tag zu Tag sicherer, dass ich den Richtigen gefunden hatte.“

„Louis hat als Schauspieler einen unfassbaren Drang, immer noch besser zu werden. Er setzt wirklich alles daran, das zu erfüllen, was ich mir als Regisseur vorgenommen habe. Das ist eine unglaublich intensive, vertrauensvolle Zusammenarbeit“, schwärmt Erwa von seinem Hauptdarsteller. „Dass seine Karriere gerade riesige Sprünge macht, wundert mich kein bisschen. Es ist für mich völlig klar, dass Louis mal einer der ganz Großen in Deutschland wird. Und auch weit darüber hinaus.“

Die Rolle von Phils großem Schwarm Nicholas ging an Jannik Schümann, der neben zahlreichen TV-Produktionen auch schon in Christian Petzolds BARBARA zu sehen war. „Gerade für die Beziehung zwischen Phil und Nicholas war es natürlich wichtig, beim Casting sorgfältig und einfühlsam vorzugehen. Ich habe Louis und Jannik dreimal gemeinsam vorsprechen lassen und dabei schnell gemerkt, dass das gut funktioniert“, erinnert sich der Regisseur. „Besonders schön fand ich, dass Die Mitte der Welt schon eines von Janniks Lieblingsbüchern war, bevor er zu unserem Film stieß. Er kam mit unglaublich viel Vorwissen, Begeisterung und einem persönlichen Bezug zur Arbeit. Das war für mich als Regisseur ein echtes Geschenk.“

Auch von den Neuentdeckungen in seinem Ensemble zeigt Erwa sich begeistert: „Eine echt große Überraschung war Ada Philine Stappenbeck. Sie war eine von den 1000 Jugendlichen, die sich beim offenen Casting beworben haben. Schon bei ihrem Video war ich so berührt, dass ich Rotz und Wasser geheult habe. Für mich als jemand, der bereits oft mit Laiendarstellern gedreht hat, war es eine große Freude mit ihr zu arbeiten. Und nachdem wir die Ehre hatten, sie zu entdecken, hat sie mittlerweile auch schon zwei weitere Projekte abgedreht.“ Und er fügt hinzu: „Auch Svenja Jung, die wir ebenfalls beim Casting entdeckt haben, war ein Glücksgriff. Ihre sprudelige Art war perfekt für Phils beste Freundin Kat.“

Bei den Dreharbeiten in Köln, Nordrhein-Westfalen und Wien stand mit Sabine Timoteo, Inka Friedrich, Sascha Alexander Geršak und Nina Proll allerdings auch ein Quartett an weithin bekannten und erfahrenen Schauspielern in den Erwachsenen-Rollen vor der Kamera. „Mir ging es gar nicht darum, möglichst prominente Namen zu besetzen. Alles was ich wollte waren Schauspieler, die diese Figuren so authentisch wie möglich zum Leben erwecken“, erklärt Erwa. „Sabine zum Beispiel passte als Glass einfach perfekt. Sie hat diese besondere Zerbrechlichkeit, aber eben auch die Stärke einer Löwenmutter.“

„Für die Rolle von Glass’ neuem Freund Michael war es entscheidend jemanden zu finden, der einen Fels in der Brandung darstellen kann“, fährt er mit Blick auf Sascha Alexander Geršak fort. „Aber gleichzeitig musste dieser Mann eben auch eine ganz weiche Seite und ein Augenzwinkern haben.“ Als eng mit Glass und ihren Kindern befreundetes lesbisches Pärchen begeistern Inka Friedrich und Nina Proll. Und das nicht zuletzt ihren Regisseur: „Ich liebe Nina. Und mit Inka wollte ich schon immer einmal arbeiten, seit ich sie damals in SOMMER VORM BALKON gesehen habe.“

Eine eigene Hauptrolle in DIE MITTE DER WELT spielt allerdings auch Visible, das Zuhause der Familie. „Die Villa spielt in der Romanvorlage eine so wichtige Rolle, dass ich sie wie einen eigenen Charakter behandeln wollte“, gibt Erwa zu Protokoll. „Visible ist so vieles gleichzeitig. Das Haus hat eine dunkle, abweisende Seite, quasi zur Abschreckung unwillkommener Gäste. Aber andererseits ist es eben auch einladend, romantisch und verwunschen.“ Bei der Suche nach dem idealen Drehort stellte das durchaus eine Herausforderung dar, wie er zugibt: „Wir haben monatelang und sehr ausgedehnt gesucht. Ich wollte wirklich eine einzigartige Villa finden. Und am Ende ist uns das zum Glück in Mülheim an der Ruhr auch gelungen.“

Für den Look des Films arbeitete Erwa eng mit seinem Kameramann Ngo The Chau zusammen, der für seine Arbeit an Film- und Fernsehprojekten wie ALMANYA – WILLKOMMEN IN DEUTSCHLAND, STEREO oder „Borowski und der stille Gast“ schon mit zahlreichen Preisen bedacht wurde. „Im visuellen Konzept war uns wichtig, eine im besten Sinne uneinheitliche Welt zu erzählen. Jeder Mensch hat nicht nur einen Stil, eine Form, eine Stimmung - wir sind vielschichtig“, berichtet der Regisseur, der auch die Bildgestaltung ganz subjektiv nach seinem jungen Protagonisten ausrichtete. „Wir folgen Phil durch die Geschichte. Es gibt kaum Momente, an denen die Kamera nicht nah bei ihm ist und wir die Welt aus seiner Perspektive sehen. Diese Nähe ist es auch, die es uns erlaubt, in Phils Gedankenwelt zu springen, die wir durch Pop-Elemente wie Collagen oder epische Zeitlupen erweitert haben. Das schafft lustvolle Ausflüge in die großen, melodramatischen Gefühle der Teenagerzeit.“

Der Jugend ist es auch zu verdanken, dass Musik in der Gestaltung von DIE MITTE DER WELT eine so große und besondere Rolle spielt. „Teenagersein hat für mich in meiner Erinnerung sehr viel mit Musik zu tun“, meint Erwa.  „Ich habe damals die Welt oft als Popsong erlebt. Und wenn ich mich so umschaue, hat sich da nicht viel verändert. Musik begleitet uns durchs Leben und oft verbindet man bestimmte Situationen, Beziehungen und Lebensabschnitte mit gewissen Songs. Mir war es wichtig, die Popsongs, die wir im Film hören, sehr bewusst auszuwählen. Denn sie beschreiben Phil, seine Welt und die Situation, in der er sich gerade befindet. Es sind keine 08/15-Popsongs, sondern sehr besondere Stücke von Künstlern, die auch eine Message haben: Austra, Soap & Skin oder Naked Lunch.“ Auch Clemens Rehbein alias Milky Chance, der im Film einen Gastauftritt als Glass’ Ex-Freund hat, steuert mit seinem Hit „Down by the River“ einen Song zum Soundtrack bei. Nicht unerwähnt lassen will der Regisseur allerdings auch den Score von Paul Gallister, der als Produzent auch schon mit Künstlern wie Wanda oder Conchita Wurst zusammenarbeitete: „Mit seiner Filmmusik unterstützt er die flirrende, schwebende, brüchige Atmosphäre des Films ganz hervorragend.“

„Für mich ist DIE MITTE DER WELT als Kinofilm die Erfüllung eines lange gehegten Traums“, fasst Erwa zusammen. „Ich habe einfach versucht, den Film zu drehen, den ich als großer Fan von Steinhöfels Roman gerne gesehen hätte: voller Intensität und Zerbrechlichkeit, über den letzten Sommer der Jugend und all die opulenten Gefühle der ersten Liebe, bei der es eigentlich immer nur ‚himmelhoch jauchzend’ oder ‚zu Tode betrübt’ gibt.“